Vielen gehen die geplanten Veränderungen in Chile zu weit. Kurz vor dem Verfassungsvotum wirkt das Land gespaltener als während der Unruhen, die den Prozess ausgelöst hatten.
Seit 30 Jahren sitzt Schuhputzer José Acevedo in der Fußgängerzone von Santiago de Chile. Normalerweise sind seine wachen Augen stets auf der Suche nach Kunden. Doch in diesen Tagen ist sein Blick fixiert auf das kleine Buch auf seinem Schoß. Wie viele andere hier liest er den Entwurf der neuen Verfassung, über die alle Chilenen am Sonntag abstimmen müssen. Es herrscht Wahlpflicht.
Bisherige Verfassung noch aus Diktatur-Zeit
Viele Chilenen fühlen ähnlich, sind desillusioniert von einem Staat, der sich zwar zu einem der reichsten und wachstumsstärksten Südamerikas entwickelt hat, dessen neoliberales Wirtschaftssystem aber viele Bürger abgehängt hat. Vor bald drei Jahren entlud sich diese Spannung in Wochen andauernder, teilweise gewalttätiger Proteste. Sie endeten erst, als die Regierung versprach, mithilfe einer eigens gewählten Kommission eine neue Verfassung zu erarbeiten. Sie soll die alte, noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende Verfassung, ablösen.
In der alten Verfassung waren die Aufgaben des Staates auf ein Minimum reduziert. Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem waren privatisiert. Im nun vorliegenden Entwurf kommt dem Staat mehr soziale Verantwortung zu, sich um seine Bürger zu kümmern. Allen soll der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, außerdem ein staatliches Renten- und Gesundheitssystem aufgebaut werden. Auch politische Macht soll gerechter verteilt werden.
Ziel: Macht-Konzentration beenden
"Das politische System unter der aktuellen Verfassung konzentriert sich viel mehr auf den Präsidenten und den Kongress", erklärt Politologe Patricio Navia.
So sollen die einzelnen Regionen mehr Kompetenzen und die indigenen Völker Chiles weitreichende Autonomie erhalten.
Venezuela als abschreckendes Beispiel
Doch vielen geht das zu weit. In den sozialen Netzen trendet in diesen Tagen der Hashtag #Chilezuela. Den Namen des Krisenstaates Venezuela aus dem Norden des Kontinentes hört man am häufigsten auf den zahlreichen Gegendemonstrationen.
Für viele auf der Seite der Befürworter hat die neue Verfassung auch eine große symbolische Bedeutung, vor allem, um endlich die Wunden aus der Zeit der Pinochet-Diktatur zu heilen.
Es geht auch um Zukunft von Präsident Boric
"Gerechtigkeit, Wahrheit, Schluss mit der Straflosigkeit!" ruft eine Gruppe älterer Frauen und Männer vor dem Präsidentenpalast. Sie sind Angehörige der Desaparecidos, der Verschwundenen: Noch immer werden Tausende Menschen offiziell vermisst, die damals von den Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet wurden.
Offiziell neutral dagegen muss sich Präsident Gabriel Boric verhalten. Und doch geht es auch für ihn um viel. Der Verfassungsentwurf deckt sich mit vielen politischen Forderungen des linksgerichteten ehemaligen Studentenführers. Eine Ablehnung wäre ein schwerer Rückschlag für seine noch junge Amtszeit.
In den letzten Umfragen liegen die Gegner mit rund zehn Prozentpunkten vorn. Am heutigen Sonntag fällt die Entscheidung - und dabei dürfte es nicht nur um eine neue Verfassung gehen, sondern auch um die Frage, ob und wie die tief gespaltenen Chilenen wieder zueinanderfinden.
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