Nicht nur die Wissenschaft hat Zweifel daran, dass Ausgangssperren ein wirksames Mittel gegen Corona sind. Auch von juristischer Seite gibt es Bedenken.
Nachts zwischen 21 und 5 Uhr darf man die eigene Wohnung oder das Grundstück nicht mehr verlassen, wenn man in einem Landkreis mit hohen Ansteckungszahlen wohnt. So sieht es das neue Infektionsschutzgesetz vor, das kommende Woche von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll. Überall dort, wo die 7-Tage-Inzidenz die Schwelle von 100 an drei aufeinander folgenden Tagen überschreitet, soll eine strikte Ausgangssperre gelten.
Der Gesetzentwurf sieht nur wenige Ausnahmen vor: Zum Beispiel gesundheitliche Notfälle, dringende medizinische Behandlungen, berufliche Tätigkeiten, die Begleitung Sterbender oder die Versorgung von Tieren. Die Ausgangssperre soll so lange in Kraft bleiben, bis die 7-Tage-Inzidenz an fünf aufeinander folgenden Tagen die Schwelle von 100 unterschreitet - dann darf man am übernächsten Tag auch wieder nachts vor die Türe.
Massiver Eingriff in die Grundrechte der Menschen
Aus juristischer Sicht sind Ausgangssperren sehr umstritten, da sie massiv in die Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Zwar können Grundrechte prinzipiell eingeschränkt werden, allerdings muss die Einschränkung immer verhältnismäßig sein.
Einige Gerichte haben Ausgangssperren in den vergangenen Monaten als gerechtfertigt angesehen - meist unter Verweis auf hohe Inzidenzen in der betroffenen Region. So haben etwa die Verwaltungsgerichte Hamburg und Osnabrück Anfang April die dort geltenden Ausgangsbeschränkungen bestätigt. Eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von Covid-19 sei ohne die Anordnung einer nächtlichen Ausgangsbeschränkung erheblich gefährdet. Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung überwiege die Rechte der Einzelnen.
Grundrechtseinschränkung müsse tatsachenbasiert begründet werden
Immer wieder wurde aber darauf verwiesen, dass die Ausgangsbeschränkungen aufzuheben seien, wenn die Zahlen wieder sinken würden. Je länger die Pandemie und die damit verbundenen Shutdowns andauern, desto kritischer sind pauschale Grundrechtseinschränkungen aus juristischer Sicht. Denn am Anfang wusste man noch wenig über das Virus und die Ausbreitung, inzwischen sollten die Maßnahmen gezielter und damit verhältnismäßiger erfolgen.
So entschied das Oberverwaltungsgericht Lüneburg vor kurzem, dass eine Ausgangssperre in der Region Hannover nicht verhältnismäßig sei. Die starke Grundrechtseinschränkung müsse tatsachenbasiert begründet werden, und die Wirksamkeit von Ausgangssperren sei nicht klar. Ausgangssperren seien das letzte Mittel in der Pandemiebekämpfung; vorher müssten mildere Maßnahmen durchgesetzt werden und diese auch wirklich kontrolliert werden.
Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hob zuletzt eine Ausgangssperre im Main-Kinzig-Kreis auf. Zum einen sei nicht dargelegt, welche Bemühungen der Kreis unternommen habe, um die bereits bestehenden Schutzmaßnahmen effektiv durchzusetzen. Zum anderen sei die Begründung, dass 60 Prozent der Neuinfektionen bei Zusammenkünften in Innenräumen entstünden und die häufigste Infektionsquelle im häuslichen/familiären Bereich liege, nicht ausreichend für diese die Grundrechte weit einschränkende Maßnahme, so das Gericht in seiner Entscheidung.
Entscheidung wird vor dem Bundesverfassungsgericht fallen
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete die Ausgangssperre dagegen als "verhältnismäßig".
"Deshalb ist das eine Maßnahme, die zu den vielen anderen dazugehört. Und sie ist auch verhältnismäßig."
Das letzte Wort zur Ausgangssperre wird das Bundesverfassungsgericht haben. Entsprechende Klagen wurden bereits angekündigt. Die Richterinnen und Richter in Karlsruhe werden dann entscheiden, ob die nächtliche Ausgangssperre im Einklang mit dem Grundgesetz steht oder nicht.
Christian Deker ist Redakteur in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.