Eine Inzidenz von fast 700 – doch Belgien setzt anders als andere Länder auf vergleichsweise sanfte Maßnahmen. Der Chef des staatlichen Gesundheitsdienstes erklärt, warum.
Belgiens Intensivstationen ächzen – wie in ganz Europa. Die kritische Grenze von 500 Corona-Intensivpatienten landesweit hat das Land seit einigen Tagen überschritten. Und der zuletzt sehr schnelle Anstieg der Inzidenzen auf um die 700 lässt nicht vermuten, dass sich die Lage bald entspannt.
"Alle Alarmsignale stehen auf rot", warnte Ministerpräsident Alexander De Croo gestern Abend nach einer Sitzung des belgischen Corona-Lenkungsausschusses. Es ist eine Situation, in der andere Länder strenge Maßnahmen verhängen – nicht zuletzt das direkte Nachbarland Niederlande, das gerade für drei Wochen durch einen, wenn auch milden, Lockdown geht.
Belgien aber wählt den sanften Ansatz: ein bisschen mehr Homeoffice, ein bisschen mehr Maske. Ansonsten bleibt alles offen. "Wir wollen einen Lockdown vermeiden", erklärt De Croo im selben Atemzug, wie er warnt.
Angesichts der Infektionszahlen kommen in Belgien neue Maßnahmen: Eine Homeoffice-Pflicht für vier Tage die Woche, verstärkte Impfangebote und die Ausweitung der Maskenpflicht.
Kann das gut gehen? Der Virologe Prof. Steven van Gucht ist Leiter des belgischen Gesundheitsdienstes Sciensano und so etwas wie der Lothar Wieler Belgiens. Er meint: ja. Und erklärt die belgische Philosophie: sanfte Maßnahmen bei Super-Inzidenzen.
ZDFheute: Herr van Gucht, seit vier Wochen steigen die Zahlen in Belgien rasant an. Was ist da passiert?
Prof. Steven van Gucht: Wir haben eine sehr hohe Impfrate – und an einem bestimmten Punkt haben Menschen in Belgien gedacht, die Pandemie sei vorbei. Insbesondere in Flandern, wo mehr als 90 Prozent der Erwachsenen und viele Jugendliche geimpft sind. So entstand der Eindruck, dass wir auch mit den Beschränkungen aufhören können. Doch seit das Wetter schlechter wird, verlagern sich viele Aktivitäten nach drinnen. Und seit Oktober sehen wir einen exponentiellen Anstieg der Infektionen.
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ZDFheute: In dieser Situation setzt Belgien nun auf sehr sanfte Maßnahmen. Reicht das, um die Welle zu brechen?
Van Gucht: Ich glaube: ja, die neuen Maßnahmen können ausreichen. Wobei die Betonung auf 'können' liegt. Vieles hängt davon ab, wie sich die Menschen in ihrem Privatleben verhalten werden. Das ist ein Element, das wir nicht kontrollieren können.
ZDFheute: Bei ähnlicher Inzidenz haben die Niederlande gerade einen Lockdown verhängt. Wäre das nicht der bessere Weg?
Van Gucht: In den Niederlanden haben sie das Nachtleben geschlossen und einige etwas drastischere Maßnahmen ergriffen. Das ist noch kein echter Lockdown, aber es geht in diese Richtung. Ich glaube, dass man damit bloß einen Jojo-Effekt auslöst. Das haben wir in den Niederlanden in der Vergangenheit schon öfter erlebt. In ein paar Wochen werden sie alles wieder lockern müssen – von dem Moment an, in dem die Zahlen besser werden, steigt der Druck. Dann werden die Menschen viel an Kontakten nachholen – und es entsteht ein Rebound-Effekt. Das ist keine nachhaltige Strategie.
ZDFheute: Belgien will jetzt erst langsam mit dem Boostern der Gesamtbevölkerung beginnen – spricht vom Frühjahr nächsten Jahres. Ist das nicht zu spät?
Van Gucht: Ich glaube, wir haben rechtzeitig begonnen - aber meiner Meinung nach geht es nicht schnell genug. In unseren Altersheimen sind wir mit den Booster-Impfungen fast durch. Das ist fast der einzige Bereich der Gesellschaft, in dem sich die Zahlen verbessern.
Jetzt müssen wir die dritte Dosis bei allen weiteren Risikogruppen beschleunigen. Sie können natürlich fragen, warum haben wir damit nicht schon im Sommer begonnen? Man darf den Booster auch nicht zu früh verabreichen. Er hat einen optimalen Effekt, wenn zwischen der zweiten und dritten Dosis sechs Monate liegen."
Das Interview führte Florian Neuhann.
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