Eine Sternstunde des Parlamentarismus sollte es werden. Doch die Debatte im Bundestag zur Impfpflicht zeigt: Orientierung suchen noch viele. Und Respekt haben nicht alle.
Im Bundestag wird heute zum ersten Mal über die mögliche Einführung einer Corona-Impfpflicht diskutiert. Wie sähe eine genaue Umsetzung aus und wäre es mit der Verfassung vereinbar?
Diese Debatte war anders. Bei den bisherigen großen Orientierungsdebatten im Bundestag ging es immer auch um persönliche Betroffenheit. Die Abgeordneten sprachen von Gefühlen, Krankheiten, Todesfällen in der Familie. Bei der Sterbehilfe war das zum Beispiel so. Bei der Pränataldiagnostik auch.
Bei der Impfpflicht hätte es auch so sein können.
Nur wenige sprechen bei Impfpflichtdebatte von sich
Doch es dauerte mehr als eine Stunde, bis die Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta von dem "ganzen persönlichen Rucksack" sprach, den Emotionen, die jeder im Bundestag nach zwei Jahren zermürbender Corona-Pandemie mit sich schleppe. Wie jede und jeder in diesem Land.
Von der eigenen Infektion und den Folgen im Familien- und Freundeskreis sprach fast niemand. Nur Matthias W. Birkwald (Linke) erwähnte den Tod seines Vaters, der einen Tag nach der Boosterimpfung starb. Sie hatte nichts mit seinem Tod zu tun, "aber es fühlt sich anders an", so Birkwald.
Drei Anträge plus irgendwas von der Union
So einfach ist das eben nicht mit diesem Coronavirus. Wenn Emotionen in dieser Orientierungsdebatte hochkamen, dann ging es darum, ob nun eine Impfpflicht gegen Omikron hilft oder nicht. Und wer daran schuld ist, dass die Situation so ist, wie sie ist.
Drei Gruppenanträge sind derzeit im Gespräch. Über die konkreten Vorschläge soll erst Mitte Februar debattiert, Mitte März über sie entschieden werden. Angeblich will die Union auch noch einen eigenen vorlegen. Doch wofür die Union ist, die damit aus der parteiübergreifenden Konsenssuche aussteigen würde, ist nicht so richtig klar.
Ein Teil der dreistündigen Debatte zum Nachschauen:
Der Bundestag widmet sich heute erstmals ausführlich dem Für und Wider einer Corona-Impfpflicht. Erwartet wird eine Grundsatzdebatte zu dem umstrittenen Thema.
Fünf Positionen gibt es derzeit im Bundestag:
Die Befürworter: Gesellschaft befrieden
Vor allem bei SPD und Grünen gibt es Befürworter für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren oder eine ab 50 Jahren. Dagmar Schmidt (SPD) hält die allgemeine Impfpflicht für nötig, weil die Impfquote immer noch zu niedrig sei. Sie sei "das mildere Mittel als eine Durchseuchung". Diese klare Regel für alle, findet Kirsten Kappert-Gonther (Grüne), würde die Spaltung in der Gesellschaft "befrieden".
Grünen-Politikerin Piechotta ist für die Impfpflicht ab 50. Sie kommt aus Sachsen. Niemand, sagte sie, können wissen, ob die "gesellschaftlichen Nebenwirkungen der Impfpflicht" wirklich gelindert werden könnten.
Erst gegen Schluss der Debatte warb Karl Lauterbach (SPD) für die Impfpflicht. Als Abgeordneter, nicht als Bundesgesundheitsminister. Er hält sie für unerlässlich, weil mit neuen Varianten des Virus zu rechnen sei.
Karl Lauterbach hat sich im Bundestag für eine allgemeine Impfpflicht eingesetzt. Die Situation könne man "den gefährdeten Menschen nicht weiter zumuten", so der SPD-Gesundheitsminister.
Die Gegner: Staat geht zu weit
Die Gegner einer Impfpflicht, die heute sprachen, kamen komplett aus der AfD, teilweise aus der FDP, vereinzelt von der Linken, wie Gregor Gysi etwa. Wolfgang Kubicki (FDP) hat einen Contra-Vorschlag eingebracht. Er ist nicht generell gegen das Impfen, er sei es selbst, sagte er. Es gehe aber um die Frage: Was darf der Staat?
"Wir tun gut daran, Impfen nicht durch eine moralische Aufladung zur Solidaritätspflicht zu machen", sagte Kubicki. Nämlich dann würde man diejenigen, die sich dagegen entscheiden, aus welchem Grund auch immer, stigmatisieren.
Die AfD lehnt die Impfpflicht komplett ab. Fraktionschefin Alice Weidel sprach vom "Sündenfall", einem "Amoklauf gegen die Freiheit", von einer "unerhörten Grenzüberschreitung", einem "skandalösen Wortbruch", weil viele noch vor einiger Zeit eine Impfpflicht abgelehnt hatten.
ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke erklärt bei ZDFheute live, welchen Handlungsspielraum die Regierung bei der Einführung einer Corona-Impfpflicht hat.
Die Union: Ist irgendwie dagegen
Die Abgeordneten der Union hatten sich abgesprochen, nur wenige scherten aus. Fast alle Abgeordneten beklagten, dass die Ampel keinen eigenen Vorschlag vorgelegt und die Abstimmung zur Gewissensentscheidung erklärt habe. Dass es noch kein Impfregister gebe, sei schuld der Ampel. Die Verbreitung von Omikron auch, weil es diese Debatte schon früher hätte geben sollen.
Die Ampel-Regierung gebe ein Bild von "Planlosigkeit" ab, sagte Andrea Lindholz (CSU). Sie sei bei der Impfpflicht "führungs- und orientierungslos":
Sepp Müller (CDU) warf Gesundheitsminister Lauterbach noch vor, er horte zu viel Impfstoff statt an ärmere Länder welchen abzugeben. "Ja, wollen wir demnächst denn noch Hund und Katze impfen?"
Der Bundestag debattiert über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. ZDFheute hat die wichtigsten Argumente dafür und dagegen gesammelt. Pro und Contra - ein Überblick.
"Eine absolute Impfpflicht wäre falsch", sagte wiederum Tino Sorge (CDU). Und trotz deutlicher Kritik an der Ampel machte er ein Angebot:
Unentschlossene: Nicht am Ende der Debatte
Und dann gibt es noch Unentschlossene. Zu ihnen gehört Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Gibt es vielleicht nicht doch ein milderes Mittel als die Impfpflicht? Reicht sie für die ab 50-Jährigen und muss man nicht den Einsatz von Corona-Medikamenten abwarten?
Linken-Abgeordnete Kathrin Vogler ist zwar für eine allgemeine Impfpflicht. Trotzdem blieben Fragen: "Ich sehe noch nicht, dass wir am Ende der Diskussion sind."
In der ersten Bundestagsdebatte zur Impfpflicht hat Marco Buschmann ein Stufenmodell in Betracht gezogen. Er wolle "mildere Alternativen prüfen", so der Bundesjustizminister.
AfD tobt gegen Ricarda Lang
Ein Abschluss war das sicher nicht. Was die Fraktionschefs von dem Thema halten, was Bundeskanzler Olaf Scholz und der neue CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, erfuhr man nicht. Sie alle hielten sich zurück. Dafür durften viele neue Abgeordnete ans Pult.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hatte sich zu Beginn eine "faire, respektvolle und konstruktive Debatte" gewünscht. So ganz klappte das nicht. Als Ricarda Lang (Grüne) ihre erste Rede hielt, tobt die AfD. Eine Sternstunde des Parlamentarismus? Kaum.