Bund und Länder ringen um Corona-Maßnahmen - der Bundestag ist außen vor. Das ärgert die Abgeordneten. Staatsrechtler geben ihnen Recht: Das Parlament müsse gehört werden. Vorher.
Es ist eine seltsame Situation. Im Kanzleramt ringt Angela Merkel mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten per Videoschalte um die Einzelheiten des neuen Corona-Plans. In Sichtweite debattiert der Bundestag. Alle Oppositionsparteien haben Vorschläge für Stufenpläne vorgelegt. Nur hören will sie niemand. Das ärgert die Abgeordneten seit langem. Und heute besonders.
Grüne: Entscheidungsmacht muss zurück
Immer wieder hat man versucht, die Kanzlerin zu Regierungserklärungen vor den Beratungen zu den Länden zu bewegen. Auch diesmal funktioniert es nicht. Merkel wird erst am Donnerstag, nach den Beschlüssen, sich erklären.
Das, was auch während der Debatte, aus dem Kanzleramt durchsickert, ärgert die Opposition. "Was wir brauchen, ist ein echter Perspektivplan", sagt Grünen Co-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckart. Und dieser gehöre in den Bundestag. "Diese Entscheidungsmacht muss sich der Bundestag zurückholen", sagt Göring-Eckart.
FDP-Vorsitzender Christian Lindner betont, er wolle sich lieber diplomatisch ausdrücken, um nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen: "Der Umgang mit Parlament und Grundrechten ist in dieser Form nicht geeignet fortgesetzt zu werden." Der Linken-Abgeordnete Achim Kessler sagt:
Die Linke weise diese "auf das Schärfste zurück".
"Corona-Gremium schwächt Bundestag"
Staatsrechtler können den Ärger der Bundestagsabgeordneten verstehen. "Die Forderungen vieler Abgeordneter nach besserer Parlamentsinformation und -beteiligung sind berechtigt und notwendig“, sagt Stephan Bröchler, Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.
"Das in der Verfassung nicht vorgesehene informelle Coronagremium aus Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten schwächt den Bundestag." Das Parlament droht "zum bloßen Stempelkissen, bereits dort gefällter Entscheidungen zu werden", so Bröchler.
Problem: Vertrauen in Maßnahmen wird geschwächt
Auch Andrea Edenharter, Professorin für Verwaltungsrecht an der Fernuniversität Hagen, findet es problematisch, dass der Bundestag im Vorfeld nicht stärker einbezogen wird:
Zwar könnte das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich überprüfen, ob Abgeordnetenrechte möglicherweise verletzt werden. Eine Klage, sagt Edenharter, könne aber nur das letzte Mittel sein. "Eine Klage stärkt nicht gerade das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die demokratischen Institutionen."
Besser wäre es, wenn die Bundesregierung selbst einsieht, bei solch weitreichenden Entscheidungen den Bundestag einzubeziehen. "Das erhöht die Akzeptanz der Maßnahmen und verhindert, dass sich extreme Kräfte wie die AfD als Wahrer der Grundrechte positionieren können."
Wieland: Bundestag könnte, wenn er wollte
Allerdings ist auch wahr: Der Bundestag könnte sich mehr einmischen - wenn die Koalitionsfraktionen dafür stimmen würden. "Der Bundestag kann jederzeit tätig werden, doch die Mehrheit will ja offenbar nicht, weil sie die Regierung schützt", sagt Joachim Wieland, Professor an der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Ausnahme: die Impfverordnung.
Da hätte, so Wieland, der Bundestag stärker eingreifen müssen, da es sich um einen schweren Eingriff in die die Grundrechte handelt. "Rechtspolitisch allerdings wäre es nicht schlecht, wenn der Bundestag die ein oder andere Sache noch an sich zieht", so Wieland. "Es ist politische Wille der Mehrheit, dass er es nicht macht."