Wie stehen Politik und Forschung zu einer möglichen Corona-Impfpflicht? Welche Strafen könnten bei Verstößen drohen? Alle wichtigen Fragen und Antworten zur Impfpflicht.
Vor einem Jahr schrieb Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in den sozialen Medien: "Es wird keine Corona-Impfpflicht geben." Man setze auf Freiwilligkeit und Vernunft. Angesichts der prekären Corona-Situation debattiert Deutschland nun aber doch über eine solche Pflicht. Ein Überblick:
Warum wird der Ruf nach einer generellen Impfpflicht immer lauter?
Weil der relativ hohe Anteil an Ungeimpften nach einhelliger Ansicht von Wissenschaft und Politik der Grund für die vierte Corona-Welle ist - und eine fünfte Welle droht. Kliniken in Bayern, Sachsen, Thüringen und in Ballungsräumen sind bereits überlastet. "Mindestens 90 Prozent der Menschen in diesem Land müssen eine Immunität haben, um das vernünftig kontrollieren zu können", so RKI-Präsident Lothar Wieler.
Wie viele Menschen in Deutschland geimpft und/oder geboostert sind, zeigt folgende Grafik:
Was sagt die Wissenschaft zur Pflicht?
"Es ist wirklich niemand, der gerne eine Impfpflicht haben möchte", sagte RKI-Präsident Wieler im ZDF. "Aber wenn man alles andere versucht hat, dann sagt die WHO: Dann muss man auch über eine Impfpflicht nachdenken." Eine allgemeine Impfpflicht müsse aber auch laut WHO ethisch sorgfältig abgewogen werden - und könne nur das letzte Mittel sein.
Wäre eine allgemeine Impfpflicht verfassungswidrig?
Nein. Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz dafür, und Verfassungsrechtler sehen sie als rechtlich möglich an. Die Zuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Artikel 74 Grundgesetz (GG). Demnach kann er Gesetze für Maßnahmen gegen "gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten" erlassen.
Ulrich Battis von der Humboldt-Universität verweist auf Artikel 2 GG, der das Recht auf Leben festlegt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit habe dahinter zurückzutreten, so Battis. Allerdings gibt es auch Stimmen, die mildere Maßnahmen für noch nicht ausgeschöpft und eine allgemeine Impfpflicht derzeit für unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig halten.
- "Skeptisch, ob Impfpflicht Königsweg ist"
Impfen ist eine der Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. Die Debatten sind heute die gleichen wie damals, sagt Medizinhistoriker Malte Thießen.
Was sagt die Politik?
Eine einrichtungsbezogene Impfpflicht wird wohl kommen - also für Beschäftigte und Besucher etwa in Pflegeheimen. Auch für Kliniken und Kitas ist sie im Gespräch. Noch vor Weihnachten solle es so eine Impfpflicht geben, meint SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese. Aber auch die von der bisherigen Bundesregierung vertretene Ablehnung einer allgemeinen Impfpflicht wird immer brüchiger: Mehrere Unions-Ministerpräsidenten sowie Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann befürworten sie inzwischen.
Der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hält die derzeitige Debatte indes für nicht zielführend.
Denn die Wirkung käme viel zu spät, so Spahn. Ähnlich ablehnend hat sich bisher auch die FDP geäußert.
Mehr zur politischen Debatte im Video:
Besonders Länderchefs wie Söder oder Kretschmann fordern eine Impfpflicht. Gesundheitsminister Spahn sieht die Impfpflicht skeptisch.
Wie würde eine Impfpflicht praktisch umgesetzt werden?
Es gebe offene Fragen bei der Durchsetzung einer solchen Maßnahme, so Spahn. Klar ist: Es geht um eine Pflicht - und keinen Zwang. Für Impfverweigerer seien ein Bußgeld oder gesetzliche Regelungen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes denkbar, sagte der Bielefelder Rechtsprofessor Franz C. Mayer dem RND. Auch Ministerpräsident Kretschmann hält ein Bußgeld für möglich. Niemand werde im Gefängnis landen oder von der Polizei zum Impfen abgeholt.
Welche Effekte könnte eine Impfpflicht auf bisher Ungeimpfte haben?
Sie könnte die Haltung von Impfgegnern eher ändern, meint der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner. Ein Teil der Bevölkerung habe sich in dem Selbstverständnis eingemauert, sich nicht impfen zu lassen. In dieser "Blase" werde diese Meinung ständig bekräftigt und verstärkt. Eine Impfpflicht brächte ein neues Argument ins Spiel - sowohl für die eigene Überzeugung als auch gegenüber der Gruppe.
Der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, Andreas Zick, sieht dagegen die Gefahr einer weiteren Radikalisierung der Minderheit der Impfgegner.
Das Gespräch mit Andreas Zick im Video:
Es gebe ein Milieu, das sich "von gar keinen Argumenten mehr überzeugen lässt". Man wisse noch nicht genau, inwieweit diese radikalen Gruppen einen neuen Extremismus bildeten. Durch die Radikalisierung und mangelnde Bereitschaft zur Einsicht sänken die Solidaritätswerte für diese Menschen im Rest der Gesellschaft, so Zick.
Hier können Sie nachlesen, wie ein anthroposophischer Arzt zum Impfen steht.
Was, wenn es keine allgemeine Impfpflicht gibt?
Jeder wird immun werden - wer sich gegen eine Impfung entscheidet, "wird sich unweigerlich infizieren", so Virologe Christian Drosten bereits im Mai. Doch würden damit wohl hohe Kranken- und Totenzahlen einhergehen.
Folgende Grafik zeigt, wie viele Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 versterben:
Gibt es verpflichtende Impfungen in Deutschland?
Seit 1. März 2020 gilt die Masern-Impfpflicht für bestimmte Gruppen. Bei Neueintritt in Kita oder Schule müssen die Eltern die Masern-Immunität ihres Kindes nachweisen. Kitas dürfen ungeimpfte Kinder nicht aufnehmen. Schulen dürfen Kinder nicht ausschließen, es können jedoch Bußgelder bis zu 2.500 Euro verhängt werden. Die Masern-Impfpflicht gilt auch für Erzieherinnen, Lehrer und Tagesmütter, wenn sie nach 1970 geboren wurden.
In der Bundesrepublik bestand eine Impfpflicht für Diphtherie und teilweise Scharlach (bis 1954) sowie eine für Pocken. In der DDR waren im Laufe der Zeit verschiedene Impfungen für Kinder und Jugendliche verpflichtend. Kinder konnten Krippen oder Kitas nur besuchen, wenn sie alle Pflichtimpfungen bekommen hatten. Auch fürs Studium oder bestimmte Berufe musste man diese nachweisen.
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