Die Haltung zur Corona-Politik entzweit Familien, Freundeskreise oder Nachbarn. Aber: Der Riss geht nicht durch die Mitte der Gesellschaft, sagt die Soziologin Claudia Diehl.
ZDFheute: Was bedeutet es für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, wenn eine kleine Gruppe Regeln, wie die Corona-Maßnahmen, ablehnt?
Prof. Dr. Claudia Diehl: Ich glaube "kleine Gruppe" ist entscheidend. Wir müssen viel stärker in den Vordergrund der Debatte stellen, wie einig wir uns eigentlich sind. Natürlich hängt es davon ab, über welche Maßnahmen wir sprechen. Aber die meisten Maßnahmen finden eine hohe Akzeptanz. 90 Prozent der Bevölkerung finden die Quarantäne-Regeln gut und angemessen. So einen breiten Konsens haben wir in ganz wenigen Fragen.
ZDFheute: Von einer Spaltung oder einem Riss durch die Gesellschaft kann also keine Rede sein?
Diehl: Dieses Bild finde ich falsch. Wenn man an einen gespaltenen Baumstamm denkt, dann denkt man an einen Stamm, der in der Mitte geteilt ist. Was wir aber im Moment sehen, ist ein Baumstamm, bei dem am Rand ein Splitter raussteht.
Deshalb sprechen wir in der Forschung ganz bewusst nicht von Spaltung oder Polarisierung, sondern von der Radikalisierung einer kleinen Minderheit an den Rändern.
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ZDFheute: Also ein Riss am Rand?
Diehl: Nein, auch dort bricht unsere Gesellschaft nicht. Die Pandemie ist einfach eine wahnsinnige Herausforderung für uns. Wir sehen, wie wichtig Vertrauen in die Politik ist, um durch diese Situation zu kommen. Gleichzeitig sehen wir aber in der Forschung, dass dieses Vertrauen nicht bei allen da ist.
Hinzu kommt, dass wir im Moment sehr gefangen sind in diesem Thema. Wir können uns nicht vorstellen, dass die Pandemie irgendwann vorbei ist. Aber irgendwann werden wieder andere Themen im Vordergrund stehen.
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ZDFheute: Und bei diesen Themen herrscht dann mehr Konsens?
Diehl: Auch über diese Themen werden wir streiten, aber sie greifen wahrscheinlich nicht so stark in unseren Alltag ein. Wir sind ständig umgeben von Menschen, die eine andere Meinung haben. Im Moment ist es aber so, dass man andere Meinung nicht ignorieren kann. Der eigene Impfstatus beispielsweise ist im Prinzip permanent Thema. Normalerweise ist das ja nichts, was wir über andere Menschen wissen.
ZDFheute: In Rottenacker bei Ulm aber stehen sich aktuell zwei scheinbar unvereinbare Seiten gegenüber - eine Situation, exemplarisch für viele: Ein Metzger, der trotz Quarantäne-Anordnung hinter seiner Theke stand und später eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen organisiert hat und auf der anderen Seite der Bürgermeister und viele Bewohner*innen, die den Metzger mittlerweile boykottieren. Wie können die Menschen im Ort, wie kann die Gesellschaft insgesamt, wieder zusammenfinden?
Deutschland in Sorge - schon jetzt verdoppelt sich die Infizierten-Zahl binnen weniger Tage.
Diehl: Ich glaube zusammenzufinden im Sinne von "alle müssen sich wieder einig sein", ist eine naive Vorstellung von Gesellschaft.
Wir müssen diese Konflikte auch nicht immer lösen, wir müssen uns nicht so lange unterhalten, bis wir einer Meinung sind, sondern wieder lernen, im Alltag miteinander umzugehen trotz dieser Konflikte.
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ZDFheute: Was braucht es dafür?
Diehl: Ich glaube, es braucht ein Bewusstsein dafür, dass es in jeder Gesellschaft und in jeder Gruppe abweichende Meinungen gibt. Das würde helfen. Es gibt immer Menschen, die radikale Meinungen vertreten, auch die sind Teil der Gesellschaft. Ich glaube aber, wir müssen selbstbewusster darin werden, wie wir als Gesellschaft hiermit umgehen. Klar, gegen Gewalt muss man vorgehen. Wenn jemand, wie in Rottenacker der Metzger, die Quarantäne-Regeln bricht, dann gibt es Strafen, da hat der Rechtsstaat Mittel. Aber ansonsten muss man sagen:
In Rottenacker wurde diese Grenze meines Erachtens überschritten.
Das Interview führte Constanze Kainz, ZDF-Landesstudio Stuttgart.
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