Eine Coronavirus-Variante sorgt in Großbritannien für Verunsicherung und isoliert die Insel zunehmend von Kontinentaleuropa. Zeitgleich steht der Brexit-Vollzug an. Ein Kommentar.
So, da haben wir sie nun, die splendid isolation. Allerdings unfreiwillig. Dutzende Länder haben dichtgemacht, wollen keine Briten mehr ins Land lassen, aus Angst vor dem mutierten Virus, das sich in Großbritannien rasant ausbreitet. Das Ganze wirft mehr Fragen auf als Antworten. Und in einem Mix aus Enttäuschung, Wut und Verzweiflung vermischen sich berechtigte Fragen und Verschwörungstheorien. Wie ansteckend also ist das mutierte Virus wirklich? Und hat die britische Regierung gewartet bis das Parlament in die Ferien geschickt worden war, um den neuerlichen Shutdown kundzutun?
Johnson: 70 Prozent höhere Ansteckung
Zur Ansteckung: Boris Johnson sagt, es könne bis zu 70 Prozent ansteckender sein als die bisher bekannten Viren. Forschungen legen nahe, dass es sich zumindest deutlich schneller verbreitet als andere Varianten, die es in Großbritannien zunehmend verdrängt. Zum ersten Mal wurde es im September festgestellt. Aber dass es sich so viel schneller verbreitet, sagt die britische Regierung, sei erst seit Freitag bekannt.
Selbst Parteifreunde vermuteten gestern, dass Johnson die Gefährlichkeit des neuen Coronavirus eventuell nur hochspiele, um seinen U-Turn zu rechtfertigen. Noch vergangene Woche hatte der Premier den Oppositionsführer Keir Starmer als "unmenschlich" beschimpft, weil der Weihnachten absagen wolle. Nun musste er selbst den Briten das Familienfest beschneiden, das sie über das schreckliche Jahr trösten und das dem Einzelhandel ein bisschen Hoffnung machen sollte.
Das wollte Johnson ganz bestimmt nicht: Ein klares Zeichen, bestätigt von britischen Experten, dass die Lage wegen des mutierten Virus wirklich alarmierend und besonders unübersichtlich ist. Die Sorge ist, dass ein sich schnell verbreitendes Virus auch schneller mutiert und eine Variante entwickeln könnte, gegen die die bekannten Impfstoffe nicht wirken.
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In Großbritannien wurde eine neue Virus-Variante entdeckt, die sich offenbar schneller ausbreitet. Vieles ist noch unklar - ein Überblick.
Der Regierungschef hat überall Vetrauen verspielt
An den wilden Vermutungen und Unterstellungen aber kann man sehen: Johnson wird inzwischen so ziemlich alles zugetraut. Der Premier hat in den eineinhalb Jahren seiner Regierungstätigkeit an allen Ecken Vertrauen eingebüßt. In der Bevölkerung insgesamt durch das erratische Corona-Krisenmanagement. Bei Brexit-Gegnern für seinen lapidaren Umgang mit den Folgen des Brexit und bei Brexit-Befürwortern dafür, dass er immer noch keinen Deal nach Hause gebracht hat. Besonders scharfe Gegner des konservativen Premiers finden sich in der Wirtschaft, die sich bei Corona und Brexit doppelt im Stich gelassen fühlt.
Die Konsequenzen sind einfach zu bewerten. In Dover stauen sich die Waren, von denen Großbritannien abhängt. Fast die Hälfte aller Lebensmittel kommt von der EU auf die Insel, im Winter sind es sogar fast 90 Prozent des Salats und der Tomaten. Die Supermarktkette Sainsbury’s sagt zwar, sie habe gut aufgestockt – so wie alle Unternehmen in Großbritannien, aus Angst vor dem Brexit - aber es könne doch zu Versorgungsengpässen bei frischen Waren, Gemüse und Zitrusfrüchten kommen.
Bei seiner Pressekonferenz am Nachmittag spielte Johnson das Transportchaos zwar herunter - er hatte mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron telefoniert und bestätigte, man wolle die Blockade gemeinsam und schnell lösen. Die Zuspitzung der Lage könnte allerdings passender oder unpassender nicht kommen.
Brexit-Drama und Corona-Krise prallen aufeinander
Die Brexit-Verhandlungen haben ihre jüngste Deadline, gestern Abend, wieder einmal gerissen. 98 Prozent des Vertrags stehen, so heißt es, aber beim Fisch können sich ausgerechnet Großbritannien und Frankreich nicht einigen. In zehn Tagen wollten die Briten selbstbewusst ihren großen Schritt in die "Unabhängigkeit" machen, wie das die Brexit-Anhänger hier nennen. Da ist das Timing dieses gemeinsamen Höhepunkts von Corona- und Brexit-Krise besonders pikant.
Mitten in dem Machtspiel um die Frage "Wer hat mehr zu verlieren, wenn durch den Brexit der Handel zwischen EU und Großbritannien erschwert wird?" führt das Virus vor, wie sehr Großbritannien und der Kontinent miteinander verzahnt sind. Vor allem aber wie verletzlich Großbritannien ist, dessen Grundversorgung eben doch sehr abhängt vom reibungslosen Warenverkehr mit der EU.