In die Elbphilharmonie zur Erstimpfung oder zum Booster hinter die Bühne? Der große Andrang bei der Impfaktion in Hamburg zieht auch Kritik nach sich. Eine Reportage.
Auf diesem Stuhl neben einem teuren Klavier sitzen normalerweise Stars wie Anna Netrebko - an diesem Tag darf Andrea Neumeyer in der Künstlergarderobe der Elbphilharmonie Platz nehmen. Zwei Stunden hatte die Hamburgerin für diesen Moment in der Kälte angestanden, zwei Sekunden dauert der Booster-Nadelstich, den sie bei ihrem Arzt so schnell nicht bekommen konnte.
Vor dem Raum steht Stefan Stertzing, der sich wegen der 3G-Regeln im Nahverkehr zum ersten Mal gegen das Coronavirus impfen lässt. "Schon etwas aufgeregt", murmelt der Hamburger in der alten Lederjacke.
Mobile Impfangebote - von der Moschee bis zur Schwulenbar
2.231 Menschen bekamen am Montag im 11. und 12. Stock der Elbphilharmonie eine Impfung. Es war die dritte Aktion dieser Art in dem Konzertgebäude. Erst-, Zweit- und Boosterimpfungen machten jeweils etwa ein Drittel aus. Es ist eine von vielen mobilen Aktionen in Hamburg - von der Moschee bis zur Schwulenbar - nachdem das größte Impfzentrums Deutschlands in den Hamburger Messehallen im August geschlossen wurde.
Ist die Booster-Impfung der Schlüssel um die vierte Welle zu brechen? Die Nachfrage nach der Auffrischung des Impfschutzes ist groß. Hausärzte kommen kaum hinterher.
Jetzt erleben die Hausarztpraxen und die städtischen Angebote wieder eine hohe Nachfrage. Auf der Website des städtischen Impfangebots ist kein Termin mehr verfügbar. Viele Hamburgerinnen und Hamburger beklagen zudem, dass Termine beim Hausarzt für die nächsten Wochen nicht möglich seien.
Lange Schlangen als Ausdruck eines unzureichenden Angebots?
Und auch bei den mobilen Angeboten stehen die Menschen Schlange. "Bei den offenen Impfangeboten geraten wir ordentlich unter Druck", sagte der Sprecher der Sozialbehörde, Martin Helfrich, der Nachrichtenagentur dpa am Wochenende.
Nicht alle feiern die Impfaktion in der Elbphilharmonie daher am Montag als Erfolg. Die lange Schlange, die zeitweise fast einen Kilometer bis zu den Landungsbrücken reichte, sehen einige als Ausdruck eines unzureichenden Impfangebots.
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher verteidigte am Dienstag die Bemühungen der Stadt:
Er machte auch die spärliche Lieferung des Impfstoffes durch den Bund mit verantwortlich: "Es ist wichtig, dass wir genug Impfstoff bekommen. Wir tun das, was wir können, um mit dem Impfstoff, den wir bekommen können, die Auffrischung zu ermöglichen, die empfohlen ist."
Die dezentralen Angebote, die die Leute vor Ort ansprechen, hält er für zielführender als ein großes Impfzentrum. Und er betont, dass jeder warten solle, bis die sechs Monate nach der Boosterimpfung vorbei seien.
Kreative Angebote: mit dem Chauffeur zum Piks in die Skyline Bar
In der vergangenen Woche begrüßte Tschentscher die zusätzlichen Initiativen, die auch in Kooperation mit der Stadt dazukommen: "Wir brauchen noch eine höhere Impfquote, auch in Hamburg, und deshalb hilft das alles sehr."
Die Hamburgerinnen und Hamburger sind bei Impfaktionen kreativ:
- In der Hamburger LGBTQ-Bar: "Wunderbar" nahe der Reeperbahn bekamen alle Impfwilligen bei den ersten Aktionen im September und Oktober noch eine Pizza spendiert. "Ich sehe, wie brutal Delta sich durchsetzt, da muss man gegen animpfen", sagt Barinhaber Axel Strelitz. Die Bar möchte jetzt wöchentlich wieder Impfungen am Abend durchführen.
- Ein Hamburger Luxushotel hat sich mit einem Autohändler zusammengetan: Von einem Chauffeur werden die Angemeldeten abgeholt - die Impfung gibt es dann in der Skyline Bar mit Blick über den Hafen. Diese Aktion ist bereits ausgebucht.
- Auch die Fischauktionshalle auf dem Fischmarkt in Altona wird zur Impfstation. "Während der Wartezeit kann man hier beruhigt auf die Elbe schauen", sagt Location Manager Tobias Kuhn.
- Wie komme ich an einen Booster-Impftermin?
Booster-Impfungen sollen für alle ab 18 Jahren empfohlen werden. Aber wie komme ich zu meiner dritten Dosis, wenn die Impfzentren geschlossen sind und beim Hausarzt besetzt ist?
Die Angebote können funktionieren - auch für Erstimpfungen. Ganz am Ende der Schlange vor der Elbphilharmonie steht am Montagabend Mehmet Arif. Er war lange skeptisch, doch aufgrund vieler schwerer Verläufe in seinem Umfeld hat er sich nun nach Feierabend doch für die Impfung entschlossen.
Erstgeimpfte Yogalehrerin: "Jetzt hat die liebe Seele Ruh"
Hinter ihm ist eine leere Rolltreppe, bis auf Janina Müller*, die um kurz vor 21 Uhr zögerlich die Philharmonie betritt. Die 55-jährige Yogalehrerin wollte sich aus Sorge lange nicht impfen lassen. Doch ihren Beruf kann sie nun nur noch unter 2G ausüben.
Ihre erwachsenen Kinder hatten sie beim Abendessen überredet, doch noch in der Elbphilharmonie vorbeizuschauen. Hier nimmt sich der Impfarzt auch zu später Stunde noch Zeit für ein ausführliches Aufklärungsgespräch.
Als Janina Müller nach ihrer Biontech-Impfung auf der Bühne im großen Saal sitzt, erinnert sie sich an den Geburtstags-Konzertbesuch, den sie in der vergangenen Woche wegen der 2G-Regel der Elbphilharmonie absagen musste. Sie erzählt, wie sehr das Thema ihre Familie gespalten hat: "Jetzt hat die liebe Seele Ruh."
*Name von der Redaktion geändert
Darüber wird inzwischen auch angesichts der rasch steigenden Zahl der Neuinfektionen immer heftiger gestritten. Die Impffrage wird zur Glaubensfrage.