Die Corona-Krise offenbart eklatante Defizite der Bürokratie. Verwaltungswissenschaftlerin Sabine Kuhlmann fordert Mut zur Entflechtung und klare Verantwortlichkeiten.
ZDFheute: Im Kampf gegen die Corona-Krise und deren Folgen ist die öffentliche Verwaltung in Deutschland immer wieder für ihr "Schneckentempo" kritisiert worden. Zu Recht?
Sabine Kuhlmann: Ich denke, das ist mit zunehmender Dauer der Krise eine berechtigte Kritik. Es gibt eine Reihe von krassen Problemen: Angefangen beim unglaublichen Defizit bei der Digitalisierung nicht nur bei den Gesundheitsämtern, wo es besonders aufgefallen ist.
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ZDFheute: Als stellvertretende Vorsitzende des Normenkontrollrats beraten Sie die Bundesregierung auch bei der Digitalisierung der Verwaltung. Was sind Ihre wichtigsten Ratschläge?
Kuhlmann: Wir haben zum Beispiel seit langem das Einführen von digitalen Unternehmenskonten gefordert, über die alle Behördenkontakte abgewickelt werden können. Hierzu gehört auch die Registermodernisierung, damit Daten von Bürgern oder Unternehmen nur einmal und nicht vielfach eingegeben werden müssen, das sogenannte "Once Only“-Prinzip.
ZDFheute: Welche Vorteile brächte das vor allem?
Kuhlmann: Für Unternehmen vereinfacht es die Interaktion mit der Verwaltung und es schafft Transparenz:
Es hätte weder dieses Ausmaß an Missbrauch gegeben noch die erheblichen Verzögerungen der Geldtransfers an wirklich Not leidende Firmen.
Bürokratie ist zu langsam, zu ineffizient, zu teuer. Doch für Wirtschaft und Staat ist die Verwaltung unverzichtbar. Wieviel Bürokratie braucht die moderne Gesellschaft?
ZDFheute: Eine starke Bürokratie sorgt für klare Regeln in der Gesellschaft. Gleichzeitig gilt "überbordende Bürokratie" als lähmend. Manch einer sagt: Wir verwalten uns in der Corona-Krise zu Tode. Erstickt Deutschland an seiner Bürokratie?
Kuhlmann: Man muss beide Seiten betrachten: Ein Vorteil gut funktionierender Bürokratie ist Rechtssicherheit, Gleichbehandlung, wenig Korruption. Da stehen wir im internationalen Vergleich relativ gut da.
Momentan sehen wir etwa im Verordnungswesen der Länder eine Regulierungswut.
ZDFheute: Wer wütet da?
Kuhlmann: In den Ministerien sitzen Rechtsspezialisten, die in ihren jeweiligen Fachgebieten Regeln schaffen, die schwer implementierbar und nicht praxistauglich sind. In Krisenzeiten aber sind pragmatische Lösungen gefragt.
ZDFheute: Wie lässt sich das Regel-Gestrüpp stutzen?
Kuhlmann: Gestrüpp ist ein ganz gutes Bild. Oder anders ausgedrückt: Es gibt eine Komplexitätsfalle.
Das behindert ein schnelles, dynamisches Agieren, echten Fortschritt - weil die Verflechtung zwischen den einzelnen Ebenen so groß ist, dass man nicht mehr vorankommt.
Im Vogtland ist die Impf-Priorisierung seit Wochen komplett aufgehoben – doch in den Hausarzt-Praxen wird wenig geimpft. Bevorzugt wird der Impfstoff von Biontech, den gibt es aber zu wenig. Es könnte schneller gehen – auch mit weniger Bürokratie.
ZDFheute: Wie lauten Ihre Vorschläge für einen großen Wurf?
Kuhlmann: Digitalisierung etwa muss zur Chefsache werden. Da muss eine Reformagenda aufgestellt werden. Es braucht dabei mehr Pragmatismus. Aufgaben und Verantwortlichkeiten müssen klarer verteilt werden.
ZDFheute: Sie schauen regelmäßig über den Tellerrand hinaus: Wo steht Deutschland international mit seinem öffentlichen Verwaltungssystem?
Kuhlmann: Bei der Digitalisierung sind wir weiter extrem rückständig und im internationalen Vergleich im hinteren Drittel. Da geht es einfach nicht voran, obwohl wir es seit Jahren beklagen. Dagegen beneiden uns andere Länder wie Großbritannien oder Frankreich um die lokale Struktur der Gesundheitsämter. Diese waren allerdings bis vor kurzem im Dornröschenschlaf und müssten auf die Höhe der Zeit gebracht werden - personell, aber eben auch digital.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.
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