Die Impfpflicht ist gescheitert. Der Bundestag hat sich auf keine Regelung einigen können. Das ist eine Niederlage für die Ampel. Aber auch die Union hat nicht viel gewonnen.
Vielleicht zeigt das die ganze Weltverwirrung: Weil Kanzler Olaf Scholz (SPD) wusste, dass es eng wird, holte er Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vom Nato-Treffen in Brüssel früher zurück. Also von dort, wo es um Krieg und Frieden ging.
Im Bundestag ging es an diesem Donnerstag auch um Leben, aber anders: um jede Stimme für einen Vorschlag zur Regelung der Impfpflicht.
Genutzt hatte der Rückruf Scholz nichts: Die Impfpflicht ist erst einmal vom Tisch, kein Antrag im Bundestag bekam eine Mehrheit. Ausgerechnet bei einem so lang diskutierten Thema wie Impfung gegen Corona. Ausgerechnet bei der Pandemie, die seit zwei Jahren die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und viel Geld gekostet hat.
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Noch nicht einmal Mehrheit für Reihenfolge
Für die AfD war das Grund zum Jubeln, als Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özuguz die verfehlte Mehrheit zum ersten Vorschlag verkündete. Dieser war das letzte Kompromissangebot der zumeist Ampel-Abgeordneten. Dementsprechend starr die Minen auf der Regierungsbank.
Dass die Sache nicht gut für Scholz, der sich immer für eine Impfpflicht ausgesprochen hatte, ausgehen könnte, war spätestens ab mittags absehbar. Seine Regierungsmehrheit stand noch nicht einmal, als über die Reihenfolge der Abstimmung entschieden werden musste. Taktisch wichtig für das jeweilige Lager, weil nur so noch die fehlenden Stimmen von den anderen zu bekommen waren.
Union hat "offene Türen" - ab morgen
Und nun? Nun könnte die Koalition nochmal versuchen, eine eigene Mehrheit zu finden. Weil die FDP mehrheitlich gegen eine Impfpflicht ist, ist das allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Vielleicht gehen Union und SPD und Grüne auch in neue Verhandlungen.
Jedenfalls hatten Unions-Abgeordnete in der fast zweieinhalbstündigen Debatte oft von "offenen Türen" und "ausgestreckten Händen" Richtung Koalition gesprochen. Ab morgen allerdings erst. Per Brief waren die Abgeordneten zuvor eingeschworen worden, nicht mit den Vorschlägen anderer Parteien zu stimmen. Im Gegenzug bekam die Union kaum Stimmen aus dem Ampel-Lager.
Eine Frage des Gewissens, wie Kanzler Scholz die Abstimmung deklariert hatte, war die Impfpflicht ohnehin schon lange nicht mehr. Erst diese Woche hatten sich zwei Gruppenanträge vereint und aus der Impfpflicht für über 18- und über 50- eine für über 60-Jährige gemacht. Die zumeist SPD- und Grünen-Abgeordneten hatten außerdem ein Impfregister vorgeschlagen, das auch die Union wollte. Doch ein Kompromiss kam darüber nie zustande.
Warum, darüber gab es im Plenarsaal zwei Lesarten.
Grüne: "Virus der Parteitaktik"
Es kann nicht sein, so Janosch Dahmen, Gesundheitspolitiker von den Grünen Richtung Union, "dass man einen halbfertigen Entwurf in den Raum wirft und dann nicht ans Telefon geht." Die Union verbreite das "Virus der Parteitaktik" statt gegen Corona zu kämpfen:
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) warf der Union vor, sie spiele nicht mit offenen Karten. "Wenn Sie keine Impfpflicht wollen, dann sagen Sie es!" Von Paula Piechotta (Grüne) kam der Vorwurf:
Bis "zum Schluss", versicherte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, habe man versucht, mit der Union ein Kompromiss zu finden. Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann forderte die Union auf, "nicht die Legende zu erzählen, wir wären nicht gesprächsbereit." Es sei Unionschef Friedrich Merz gewesen, "der nicht in der Lage ist, einen Termin zu finden."
Union: Ampel-Vorschlag nicht praktikabel
Merz schüttelte da nur mit dem Kopf. Aus der Sicht seiner Fraktion sah das natürlich anders aus. Der Vorschlag der Ü60-Gruppe sei nicht rechtssicher, so der Hauptvorwurf. "Abgesehen davon, dass Sie keine eigene Mehrheit haben", so Merz. Die Verhandlungsangebote der Ü60-Gruppe seien laut Vize-Fraktionschef Sepp Müller viel zu kurzfristig gekommen:
Außerdem sei es zweifelhaft, ob die vorgeschlagene Beratungspflicht und eine Impfpflicht "zum jetzigen Zeitpunkt" überhaupt umsetzbar sei, so Müller. Es drohe derzeit keine Überlastung des Gesundheitswesens, höchstens die des medizinischen Personals, das aber überwiegend geimpft sei. Der Vorschlag der Union sah deswegen vor, die Impfpflicht erst im Herbst in Kraft zu setzen, wenn eine neue, gefährliche Viruswelle drohe. CDU-Politiker Nina Warken:
AfD mit neuer Zwischenfrage-Taktik
Damit war die Union auf Linie des Vorschlags von der Mehrheit der FDP und Teilen der Linken. Laut FDP-Politiker Wolfgang Kubicki ist eine Impfpflicht "weder rechtlich noch gesellschaftspolitisch zu rechtfertigen". Es sei nicht Aufgabe des Staates, die Menschen vor sich selbst zu schützen. Impfen müsse eine "persönliche Entscheidung" bleiben, sagte Sahra Wagenknecht (Linke).
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Dieser bekam eben so wenig eine Mehrheit wie der Antrag der AfD, die sich beide gegen eine Impfplicht aussprachen. Die AfD wählte diesmal eine neue Methode, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie ließ ihre älteren Mitglieder zu Zwischenfragen, Kurzinterventionen auftreten.
Das Muster der Einlassungen war stets gleich: Ich bin 72, ich bin 66 Jahre alt, ich bin bis heute nicht krank geworden. Oder: Ich war infiziert, aber es war nicht schlimm, stattdessen mache die Impfung krank. AfD-Abgeordnete Robert Farle sagte, sollte die Impfpflicht kommen:
Wiedervorlage im Herbst?
Schluss und Aus ist nun eher für die Impfpflicht. "Mindestens zwei Fraktionen haben hier parteitaktisch operiert, indem sie keine Gewissenentscheidung zugelassen haben", so SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, es sei bedauerlich, "dass der Ampel die Kraft gefehlt hat, sich unserem Antrag anzuschließen."
Ob die Impfpflicht bis zum Herbst noch eine Chance hat, scheint derzeit eher unwahrscheinlich. In einer Erklärung des FDP-Spitze, die zu Protokoll gegeben wurde, heißt es: "Wir empfehlen allen Bürgerinnen und Bürgern sich im eigenen Interesse impfen zu lassen und sich so vor einem schweren Krankheitsverlauf und Tod zu schützen."
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