Mediziner: Leid der Kinder darf sich nicht wiederholen

    Interview

    Jugendliche in der Pandemie:"Eingeschränktes lebensbejahendes Gefühl"

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    Depressionen, Magersucht, Übergewicht: Viele Kinder und Jugendliche haben in den Jahren der Pandemie sehr gelitten. Der Mediziner Jörg Dötsch sagt: Das darf sich nicht wiederholen.

    Jörg Dötsch
    Sehen Sie hier das Interview mit Kinder- und Jugendmediziner Prof. Dr. Jörg Dötsch in voller Länge.25.11.2022 | 6:41 min
    ZDFheute: Es gibt Anzeichen für ein Ende der Pandemie nach fast drei Jahren. Welche Bilanz ziehen Sie als Kinder- und Jugendmediziner?
    Jörg Dötsch: Wir haben durch die Pandemie und in der Pandemie gelernt, dass Kinder und Jugendliche eine besonders verletzliche, eine vulnerable Gruppe darstellen, dass es besonders wichtig ist, ihre Rechte und ihre Bedürfnisse mit Priorität zu behandeln.

    Jörg Dötsch ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, ist Mitglied im Corona-Expert*innenenrat und der Krankenhaus-Kommission der Regierung.

    Am Montag wird der Deutsche Ethikrat eine Empfehlung vorstellen: Pandemie und psychische Gesundheit bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

    ZDFheute: Welche Missstände sehen Sie?
    Dötsch: Wir haben insbesondere in der Anfangsphase, das kann man natürlich niemandem zum Vorwurf machen, viele Maßnahmen ergriffen, die die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen reduziert haben. Dazu haben die Schulschließungen und Kitaschließungen gehört.
    Wir wissen heute, dass dadurch viele Kinder und Jugendliche, insbesondere aus sozioökomisch schwächeren Bereichen, sehr starke Probleme bekommen haben. Das ist etwas, was wir zu dem Zeitpunkt sicher nicht wissen konnten, aber vielleicht auch nicht mit der angemessenen Priorität berücksichtigt haben, weil wir die Situation der Kinder und Jugendlichen nicht so stark im Blick hatten.

    Studie zu Maßnahmen
    :Corona: Kita-Schließungen waren nicht nötig

    Viele Kinder leiden noch an Corona-Folgen - jedoch eher an denen der Maßnahmen, als an denen des Virus selbst. Eine Studie bilanziert: Kita-Schließungen hätte es nicht gebraucht.
    Bobbycars stehen unter Jacken von Kindern, die an einer Garderobe einer Kindertagesstätte (Kita) hängen am 23.01.2021.
    ZDFheute: Welche Folgen hat das für Kinder und Jugendliche?
    Dötsch: Wir sehen eine Reihe von Folgen. Wir sehen, dass sich Kinder und Jugendliche weniger wohlfühlen, dass sie insgesamt ein eingeschränktes lebensbejahendes Gefühl haben.
    Das sind noch keine Krankheiten an sich. Aber wir sehen, dass in diesem Kontext Krankheiten stärker entstehen, wie etwa Depressionen oder auch Störungen, die zu Magersucht führen. Das ist die psychische Seite. Gleichzeitig sehen wir auch körperliche Folgen durch geringere Bewegung, durch geringeren Zugang zu Sportvereinen. Viele Kinder haben an Gewicht zugenommen.
    Overweight man on scales
    Daten der Kaufmännischen Krankenkasse haben gezeigt: Die Zahl der 6- bis 18-Jährigen mit Adipositas stieg in 10 Jahren um 33,5 Prozent, vor allem in den sozialen Brennpunkten.03.11.2022 | 0:19 min
    ZDFheute: Für ärmere Kinder sind die Folgen offenbar gravierender als für andere.
    Dötsch: Das ist völlig richtig. Die Probleme, die vor der Pandemie bereits bestanden bei Kindern und Jugendlichen aus weniger wohlhabenden Bereichen, haben sich deutlich verstärkt während der Pandemie.
    Sie haben sich auch verstärkt bei denen, die aus wohlhabenden Familien kommen, aber da die vor der Pandemie nicht so ausgeprägt waren, ist natürlich insgesamt der Anteil der Kinder, die Probleme haben, in den wohlhabenden nicht so stark.

    Fast drei Jahre schon Leben mit Corona. Welche Schäden hat die Pandemie angerichtet? Wie fällt das Fazit aus? ZDFheute blickt in der Serie "Die Scherben der Corona-Pandemie" in verschiedene Lebensbereiche.

    ZDFheute: Wenn man die Scherben der Pandemie und der Maßnahmen aufsammelt, was wäre jetzt ein Lösungsansatz? Was müsste man für Kinder und Jugendliche tun?
    Dötsch: Wir müssen in den Bereichen, in denen wir fast alle Kinder und Jugendliche erreichen, aktiv werden. Aktiv werden, indem wir dort Angebote zur besseren Gesundheitsvorsorge, zur besseren Gesundheitskompetenz anbieten. Kitas und noch wichtiger die Schulen sind ein guter Ort, denn dort erreichen wir alle Kinder und Jugendlichen, dorthin geht jeder aufgrund der Schulpflicht.
    Wir glauben, dass wir im Hinblick auf die Schulen umdenken sollten, dass die Schulen nicht nur Bildungsort und Bildungseinrichtung sind, sondern darüber hinaus auch Orte, an denen Gesundheit, Gesundheitserziehung, Gesundheitskompetenz, aber auch Vorsorge großgeschrieben werden.
    ZDFheute: Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer das leisten, klagen diese doch ohnehin über zu viele Aufgaben bei zu wenig Personal? Die werden wahrscheinlich sagen: Nicht das auch noch.
    Dötsch: Das ist völlig richtig. Gerade vor diesem Hintergrund könnte es ganz interessant für Lehrerinnen und Lehrer sein, dass sie durch Berufsgruppen aus dem Gesundheitsbereich mehr unterstützt werden.
    Wir haben beispielsweise - da sind wir sehr dankbar, dass der öffentliche Gesundheitsdienst besser ausgestattet wird - eine neue Möglichkeit, mehr Kinder– und Jugendärzt*innen auch im schulärztlichen Bereich einzusetzen.
    Man kann sich aber auch gut vorstellen, dass eine Zusammenarbeit mit Sportvereinen institutionalisiert wird. Dass ehrenamtliche Menschen, die vielleicht in Rente sind, sich noch wohl und fit fühlen, unterstützen können. Gerade, wenn sie aus dem Gesundheitsbereich kommen. Also hier ist durchaus die Möglichkeit, dass wir auch bei den sehr stark belasteten und strapazierten Lehrkräften eine Unterstützung bieten können.
    ZDFheute: Was darf nie wieder passieren? Welche Lehre ist aus diesen Pandemie-Jahren zu ziehen?
    Dötsch: Was nicht passieren darf: Dass wir die Rolle der Kinder und Jugendlichen vernachlässigen, weil wir davon ausgehen, dass wir vielleicht - weil wir selbst Familienmütter, Familienväter sind oder vielleicht Enkelkinder haben - ihre Situation gut einschätzen können. Denn wenn wir immer von der eigenen Situation ausgehen, weil wir oft selbst keine schlechten sozioökonomischen Verhältnisse haben, letztlich auch immer Kompensationsmöglichkeiten haben, dann vernachlässigen wir die Gruppe derer, denen es nicht so geht.
    Wir müssen von vorneherein für alle Kinder gleiche Rechte haben. Wir müssen die Finanzierung von Einrichtungen, die Kinder und Jugendliche unterstützen, ganz besonders stark in den Blickpunkt nehmen.
    Wichtig ist, dass wir nicht nachlassen, dass wir nicht in der nächsten Krise - denn wir haben ja leider mehrere Krisen gleichzeitig - wieder die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen hintenan stellen, in der Hoffnung, dass es für diese Gruppe nicht so schlimm werden wird.
    Das Interview führte Britta Spiekermann aus dem ZDF-Hauptstadtstudio.

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