Für Gesundheitsminister Lauterbach führen härtere Corona-Maßnahmen nicht sicher zu mehr psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Was ist der Stand der Forschung?
Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen leidet in der Corona-Pandemie. Dass das an den staatlichen Lockdown-Maßnahmen liegt, sieht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aber noch nicht als wissenschaftlich gesichert an.
Länder mit weniger strengen Maßnahmen hätten die gleichen Probleme, so Lauterbach. Liegt der Minister, der sich häufig für harte Pandemie-Maßnahmen aussprach, damit richtig?
Welche Zahlen gibt es zu psychischen Problemen bei Minderjährigen?
Laut Krankenkassen und Kliniken hat die Pandemie die seit Jahren anhaltende Zunahme psychischer Erkrankungen weiter beschleunigt. Der Kinder- und Jugendreport der DAK vom Dezember 2021 gibt an, dass während der Pandemie mehr Minderjährige an Depressionen erkrankten.
Die Generalsekretärin der Bundesschülerkonferenz, Katharina Swinka, plädiert für die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts, da der digitale Unterricht noch nicht funktioniere und soziale Kontakte "extrem wichtig" seien.
Zu den umfangreichsten Datensätzen gehört die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Dafür wurden fast 1.600 Familien mit Kindern zwischen 7 und 17 Jahren befragt. Die empfundene Lebensqualität der befragten Kinder und Jugendlichen habe sich in den Befragungszeiträumen 2020 und 2021 deutlich reduziert.
Faktoren wie Ängstlichkeit und depressive Symptome nahmen zu. Vor der Krise gaben 10 Prozent depressive Symptome an, bei der jüngsten Befragung zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 waren es 15 Prozent, bei Ängstlichkeit sogar 30 Prozent.
"Es gibt mittlerweile zahlreiche Beobachtungsstudien aus Deutschland und anderen Ländern, die zeigen, dass die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen vor allem während der Lockdown-Phasen zugenommen hat", sagt Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, zu ZDFheute.
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Was sagt diese Studienlage aus?
Belastbare Daten, wonach die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie zugenommen hat, gibt es also. Diese Ergebnisse wissenschaftlich auf einzelne Pandemiemaßnahmen wie einen Lockdown zurückzuführen, ist aber deutlich schwieriger. Andere Erklärungen können nicht sicher ausgeschlossen werden. Auch ein Vergleich, wie einzelne Pandemie-Maßnahmen in verschiedenen Ländern wirkten, ist noch nicht möglich.
"Man muss Herrn Lauterbach insofern Recht geben, dass eine echte Kausalität kaum festgestellt werden kann. Allein weil die Experimente dafür - eine Gruppe in einen Lockdown zu schicken und andere nicht - ethisch nicht vertretbar wären", sagt Christine Freitag, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Frankfurt.
Warum ein Zusammenhang dennoch wahrscheinlich ist
"Definitiv belegbar ist aber, dass Lockdowns negative Folgen haben. Sie führen zu längeren Sitzzeiten, Bewegungsarmut, zu mehr Konsum digitaler Medien. Das sind alles Risikofaktoren für Depressionen", sagt Freitag ZDFheute. "Deshalb kann man als Schlussfolgerung auch einen Zusammenhang zwischen Lockdown und psychischen Problemen ziehen."
Munz ergänzt: "Auch wenn es nur wenige Studien gibt, die den spezifischen Effekt der Lockdowns von dem allgemeinen Bedrohungserleben durch die Pandemie trennen, kann mit Blick auf nationale wie internationale Befunde stark davon ausgegangen werden, dass insbesondere der reduzierte Sozialkontakt und Austausch mit Gleichaltrigen während der Lockdowns die erhöhte psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen erklärt", sagt Munz.
Zukünftige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sollten den Bedarf an Sozialkontakt bei Kindern und Jugendlichen deshalb berücksichtigen, so Munz. Von Schließungen von Kitas, Schulen, Jugend- und Sportvereinen solle soweit möglich abgesehen werden.
Gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stärker schützen
Gehen psychische Probleme nur einher mit Lockdown-Maßnahmen oder werden sie sicher davon ausgelöst? Die Forschung kann das noch nicht sicher beantworten, auch wenn ein Zusammenhang wahrscheinlich ist.
Minister Lauterbach ist mit seiner Aussage also als Wissenschaftler bislang korrekt unterwegs. "Eine notwendige differenzierte Ursachenforschung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon jetzt konkrete Maßnahmen getroffen werden müssen, um die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stärker zu schützen", merkt Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung, aber kritisch an.
- Was eine Endemie ist
Corona wird nicht verschwinden, sondern heimisch. Vorrausetzung für eine Endemie: Eine Grundimmunität durch Impfungen und Infektionen.