Erkranken Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig an Covid-19? Das beobachten Ärzte. Noch immer fehle es an Daten und Fakten, kritisieren Wissenschaftler.
Im Klinikum Stuttgart ist die Intensivstation fast voll, darunter überproportional viele Menschen mit Migrationshintergrund. Studien sagen: Nicht die Herkunft ist entscheidend.
Wenn Jan Steffen Jürgensen, Leiter des Klinikums Stuttgart, über die Corona-Intensivstation geht, dann fällt ihm eines besonders auf: Hier, so sagt er, lägen überproportional viele Menschen mit Migrationshintergrund.
Erkranken Menschen mit Migrationshintergrund also tatsächlich besonders häufig an Corona und müssen intensivmedizinisch behandelt werden? Verlässliche Zahlen aus Deutschland dazu gibt es nicht. Daten zur sozialen Herkunft werden in Krankenhäusern hierzulande nicht erhoben. Dass es so sein könnte, legen Untersuchungen aus den USA und Großbritannien nahe. Dort haben Menschen mit Migrationshintergrund häufig einen schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem und schwere Verläufe.
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Cihan Sinanoğlu forscht am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zu Gesundheit und Migration. Für ihn geht es bei der Frage, wer erkrankt, nicht in erster Linie um einen möglichen Migrationshintergrund.
Eine OECD-Studie hat gezeigt: Das Risiko an Corona zu erkranken, hängt mit dem sozioökonomischen Status zusammen. Die Art der Beschäftigung, das Einkommen und die Wohnverhältnisse haben Einfluss auf die Gesundheit. In Deutschland leben überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund in Stadtteilen mit einer hohen Siedlungsdichte. Und arbeiten außerdem in Berufen, die zwar als systemrelevant gelten, aber schlecht bezahlt sind und viele soziale Kontakte erfordern.
Laut Zahlen des DeZIM-Instituts arbeiten Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel überproportional häufig in der Reinigung, Altenpflege, der Postzustellung oder der Lebensmittel-Branche. So machen Migranten 23 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Deutschland aus, in der Altenpflege sind jedoch rund 37 Prozent tätig.
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Am Anfang der Pandemie hieß es oft, vor dem Virus seien alle gleich. Das sei falsch, sagt der Medizinsoziologe Nico Dragano. Gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut hat er untersucht, in welchen Gegenden Menschen besonders von Covid-19 betroffen waren. Das Ergebnis: Zu Beginn der Pandemie waren die Infektionszahlen dort besonders hoch, wo Menschen mit höheren Einkommen leben - Menschen, die möglicherweise reisen. In der zweiten Welle der Pandemie aber habe sich das umgekehrt:
Gleiches konnten der Medizinsoziologe und seine Kollegen auch für die Sterblichkeit zeigen. In benachteiligten Regionen sei diese höher gewesen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr existierten mittlerweile mehr Daten dazu, welche Gruppen ein höheres Risiko haben, an Corona zu erkranken, sagt Nico Dragano. Doch noch immer sei die Datenlage dünn. Und genau dort liege das Problem.
Um Menschen zu schützen, müsse man wissen, wer sich warum und wo anstecke, so der Wissenschaftler. Dann würden auf der Intensivstation im Klinikum Stuttgart möglicherweise auch weniger Menschen mit Migrationshintergrund liegen.
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