Weil die meisten Menschen in Pflegeheimen geimpft sind, lockert Nordrhein-Westfalen dort Corona-Maßnahmen. Auch andere Länder planen solche Schritte. Was sagen Experten dazu?
Auf den ersten Blick mutet es irre an. Am Freitag warnt RKI-Chef Lothar Wieler in der Bundespressekonferenz: "Wir stehen am Anfang der dritten Welle."
Gleichzeitig bereitet das Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) deutliche Lockerungen der Schutzmaßnahmen in Alten- und Pflegeheimen vor. Gesundheitsministerin Karl-Josef Laumann (CDU) sagte am Donnerstag bei einer Pressekonferenz:
Herdenimmunität bedeutet, dass so viele Personen geimpft sind, dass Infektionsketten schnell abbrechen und Ungeimpfte automatisch geschützt sind. Jetzt sollen Besuchsregeln gelockert, Test- und Maskenpflichten in Alten- und Pflegeheimen teils aufgehoben werden. Die Ankündigung aus NRW stieß bei manchen zunächst auf Unverständnis:
Wie passen diese zwei Pandemie-Realitäten zusammen?
Was plant Nordrhein-Westfalen konkret?
Inzwischen sind ein Großteil der Bewohner und Beschäftigten von Alten- und Pflegeheimen in NRW durchgeimpft. Nach Angaben der Landesregierung gab es 2019 rund 170.000 Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen in NRW. Fast 150.000 Pflegeheimbewohner haben laut RKI-Impfquotenmonitoring in NRW bereits eine Zweitimpfung erhalten.
Darum bereitet das Land nun eine neue Verordnung vor:
- Heimbewohner sollen keine verpflichtenden Corona-Tests mehr durchführen müssen
- Für Personal und Besucher bleibt die Test-Pflicht bestehen
- Die maximale Besucherzahl soll von zwei auf fünf Personen plus Kinder steigen
- Freizeitangebote wie gemeinsames Singen, Basteln oder Sport sollen möglich sein
Halten Pflegeverbände das für eine gute Idee?
Von ZDFheute befragte Experten reagierten vorsichtig optimistisch auf die Ankündigung.
"Natürlich ist es eine Gratwanderung, weil noch etliche schwer einschätzbare Variablen mitspielen, aber wir freuen uns mit denjenigen, die nun wieder ein wenig mehr Teilhabe und Lebensqualität zurückbekommen", teilte der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) Nordwest mit.
Für ungeimpfte Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen könnte die Ankündigung jedoch eine Einschränkung bedeutet. Die Impfquote dort liege bei 70 Prozent und mehr, so die DBfK-Sprecherin zu ZDFheute. "Möglicherweise wird es sich auch so einspielen, dass nicht-geimpfte Pflegende mehr für Verwaltungs- und Dokumentationsaufgaben eingesetzt werden und weniger in der unmittelbaren Versorgung der Bewohner/innen."
Was sagen Forschende dazu?
"Nur wenn man Pflegeheime als hermetisch abgeriegelte Orte betrachtet, machen alle diese Lockerungen Sinn. Mehr Besucher zu erlauben, sehe ich kritisch", sagt Professor Carsten Watzl, Immunologe an der TU Dortmund und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie ZDFheute. "In der Gesamtgesellschaft gibt es noch keine Herdenimmunität und so könnten dann auch mehr Erreger rein und raus getragen werden."
Keiner der Impfstoffe könne alle Ansteckungen verhindern und Schnelltests der Besucher hält Watzl - wie von der Landesregierung aktuell vorgesehen - weiter für empfehlenswert.
Planen andere Bundesländer ähnliche Schritte?
Obwohl solche an Impfquoten gekoppelten Lockerungen in den aktuellen Bund-Länder-Beschlüssen nicht vorgesehen sind, bereiten weitere Bundesländer ähnliche Schritte vor wie NRW.
"Wir konnten bereits die meisten Bewohnerinnen und Bewohner in den Pflegeheimen impfen", sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitag in Berlin.
Das saarländische Gesundheitsministerium bestätigte ZDFheute eigene Vorbereitungen: "Derzeit erarbeitet das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie des Saarlandes neue Besuchsregelungen. Erste Lockerungen sind zeitnah vorgesehen."
Auch aus dem bayerischen Gesundheitsministerium heißt es: "Im Zuge weiterer Öffnungsschritte Ende März 2021 soll daher die Regelung, dass jede Bewohnerin bzw. jeder Bewohner nur von täglich höchstens einer Person besucht werden darf, aufgehoben werden."
Das baden-württembergische Sozialministerium hält Lockerungen "in Alters- und Pflegeheime mit einer sehr hohen COVID-19 Impfquote (das RKI empfiehlt mehr als 90 Prozent) ab einem Zeitpunkt von zwei Wochen nach Verabreichung der zweiten Impfung" für vertretbar. Auch das DBfK Nordwest rechnet mit "vorsichtigen Lockerungsübungen" anderswo, "wobei natürlich die Entwicklung in NRW genau in den Blick genommen wird", so eine Sprecherin.
Das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerium plant hingegen bislang keine Lockerungen. "Eine Reduktion der Testpflichten stellt damit vor dem aktuellen Wissenstand ein zu großes Risiko dar, die Infektionsrisiken für die (noch) Nicht-Geimpften unnötig zu erhöhen." Auch Hamburg plant derzeit keine Lockerungen. In Hessen wird die Entscheidung gerade diskutiert.