Der "freie" Sommer ist da, der Herbst mit einer neuen Corona-Welle droht. Wesentliche Daten über Nutzen und Schaden von Maßnahmen gibt es nicht. Im immerhin dritten Pandemiejahr.
Von einem schweren Versäumnis spricht Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP):
"Haben wir diese Daten nicht, habe ich große Zweifel, dass wir weiter grundrechtseinschränkende Maßnahmen beschließen können."
Aufklärung ist ein gesetzlicher Auftrag
Das Infektionsschutzgesetz verlangt, dass die Auswirkungen der Corona-Regelungen überprüft werden - mit der Option möglicher Reformen. Tatsächlich gibt es einen Sachverständigenausschuss - Expertinnen und Experten berufen von Bundestag und Bundesregierung -, der klären soll, wie wichtig etwa Homeoffice, Schulschließungen, Ausgangssperren, Maskentragen waren.
Fakt ist bislang: Es fehlt in Deutschland am Grundsätzlichen, etwa an Daten zum Infektionsgeschehen, also wer sich wo angesteckt hat, oder wie es um den Immunitätsstatus der Bevölkerung bestellt ist.
Sachverständigenausschuss auf dem falschen Gleis?
Stefan Huster ist Vorsitzender eben dieses Sachverständigenausschusses. Am 30. Juni soll der Bericht des Gremiums vorliegen. Er ist nicht ohne Brisanz, könnte das Gutachten doch darüber urteilen, ob die Corona-Politik, etwa zahlreiche Grundrechtseinschränkungen, wirklich sinnvoll waren.
Der Ausschuss könnte allerdings schon im Vorfeld scheitern. Es fehlen nicht nur ausreichend Epidemiologen, sondern auch Mittel und Personal, um etwa Studien aus dem Ausland zu lesen und zu bewerten. "Die Frage muss erlaubt sein, ob der Ausschuss nicht von Anfang an auf dem falschen Gleis stand?", sagt der Vorsitzende.
Fragwürdige Doppelbesetzungen
Zudem gibt es fragwürdige Doppelbesetzungen: So sind Fachleute sowohl im Expertenrat vertreten, der die Regierung aktuell berät, als auch im Sachverständigenausschuss, der die Regierungsarbeit kritisch bewerten soll. Der Virologe Christian Drosten hatte diese Doppelfunktion. Vor ein paar Wochen hat er das Handtuch geworfen, auch deshalb, weil viele vertrauliche Informationen aus dem Ausschuss an die Presse weitergeleitet wurden.
Allerdings kursierte auch das Gerücht, Drosten und auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bremsten die Überprüfung von Corona-Maßnahmen. Dem widerspricht der Ausschuss-Vorsitzende Huster vehement: "Das ist eine reine Verschwörungstheorie."
Tatsächlich hatte Lauterbach angeregt, dass sich das Gremium - anders als geplant - mit Blick auf einige politische Entscheidungen "in Form vorläufiger Ergebnisse auf eher grundlegende Aussagen" fokussiere. Lauterbach behauptete, das Gremium habe um mehr Zeit gebeten, doch die Mitglieder sind offenbar geteilter Meinung, was die Möglichkeiten und die Breite einer Bewertung zum 30. Juni betrifft. Klar dürfte schon vor der Veröffentlichung sein, dass das Gutachten keine wesentliche Aufklärung liefern wird, da es an wissenschaftlicher Grundlage fehlt.
Es sei eine "Fehlannahme, dass die Menschen glauben, das Virus wird immer harmloser", so Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor dem Treffen der G7-Gesundheitsminister.
Evidenzbasierte Medizin spielt "keine große Rolle"
"Gesundheitspolitische Entscheidungen verlangen fundierte, belastbare Zahlen," sagt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch.
Bund und Länder hätten auch nach mehr als zwei Jahren Pandemie kein effizientes Corona-Monitoring zustande gebracht. Erfahrungen würden nicht ausgewertet werden.
Evidenzbasierte Medizin, die wissenschaftliche Untersuchung von Nutzen und Schaden getroffener Maßnahmen, spiele in Deutschland keine große Rolle, kritisiert auch Jürgen Windeler. Er leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das wohl prädestiniert dafür gewesen wäre, bei der Bewertung von Daten mitzuwirken. Aber: Seine und auch andere Institute seien "wenig bis gar nicht" einbezogen worden. Man hätte sich parallel zu den Maßnahmen um Studien und Dokumentationen kümmern müssen.
Experte: Viele Corona-Maßnahmen waren überzogen
Stefan Willich, der das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité leitet, sagt, dass die Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beigetragen, aber auch gravierende Schäden verursacht hätten, besonders bei Kindern und Jugendlichen. Schulschließungen etwa seien in Abwägung mit den vor allem psychischen Folgen nicht hilfreich gewesen.
Generell empfiehlt Willich den Vergleich mit anderen Staaten, in vielen Ländern hätte es keine "dramatischen Lockdowns" gegeben, trotzdem hätten sie in der Bilanz ähnlich wie Deutschland abgeschnitten.
Deutschland brauche dringend eine bessere Datenbasis. In England, Skandinavien, in den USA gebe es gute Daten, welche Maßnahmen vernünftig und welche nicht vernünftig seien.
Bewertung der Corona-Maßnahmen fehlt
Die Bilanz im dritten Jahr der Pandemie ist ernüchternd. Immer noch fehlt eine Bewertung der Corona-Maßnahmen, obwohl andere Länder dies vorgemacht haben. Es mangelt an Daten, Personal und möglicherweise auch am politischen Willen. Zwar soll am 30. Juni ein erster Bericht vorgelegt werden, dieser wird aber nur einen kleineren Ausschnitt abbilden.
Dabei drängt die Zeit. Schließlich wollte man Schlüsse ziehen für ein künftiges Pandemie-Management. Es bleibt also bei einer Fahrt auf Sicht, obwohl viele Expertinnen und Experten dazu raten, schnellstmöglich das Fernlicht einzuschalten.
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