Fans feiern in Buenos Aires, volle Einkaufszentren in Kolumbien: Die Menschen in Lateinamerika haben für sich entschieden: Wir leben wieder - trotz dritter Welle.
Die Menschen schieben sich im Einkaufszentrum "Chipichape" durch die Gänge. Es sind an diesem Wochenende ein paar Tausend, die in der kolumbianischen Großstadt Cali zum Bummeln gekommen sind.
Es herrscht eine Atmosphäre wie vor der Pandemie, mit einer einzigen Ausnahme: Fast alle Menschen tragen Masken, solange sie durch die Gänge schlendern. In den Cafés und Restaurants der Shoppingmall dagegen nehmen sie die Masken ab und sitzen dicht gedrängt. Trotz hoher Infektionszahlen - am vergangenen Wochenende meldeten die Gesundheitsbehörden wieder 20.000 Neuinfektionen - leben die Kolumbianer ihr Leben fast wie vor Corona.
In Kolumbiens Innenstädte kehrt langsam das Leben zurück
Ladenbesitzer Eduardo Martinez aus Cali sagt:
Tatsächlich sind viele Ladenlokale in Kolumbien der Pandemie bereits zum Opfer gefallen. Wer durch die Innenstädte spaziert, sieht selbst in früher gut frequentierten Geschäftsstraßen viele leerstehende Geschäfte.
Ein paar tausend Kilometer weiter südlich herrscht Ausnahmestimmung: Die argentinische Fußball-Nationalmannschaft hat soeben die Copa America gewonnen - ausgerechnet im Land des Erzrivalen Brasilien. Noch in der Nacht strömen tausende Fans zum Obelisken im Zentrum von Buenos Aires. Am nächsten Morgen drängen sich Hunderte an den Mannschaftsbus von Lionel Messi und Co.
Jessica Costa und ihre Familie mussten ihr Zuhause verlassen und leben nun in der Favela "Penha Brasil". Vielen Brasilianern erging es durch die Pandemie ähnlich: Die zunehmende Arbeitslosenquote hat unzählige Menschen in neue Siedlungen getrieben.
Brasilien: Fußball-Events und ausgelassene Stimmung
Genau diese Szenen wollte Argentiniens Regierung eigentlich vermeiden, als sie auf die Ausrichtung der Copa America verzichtete. Brasilien richtete das Turnier trotz scharfer internationaler Kritik aus - obwohl das Land als Virusvariantengebiet eingestuft wird.
Im Vergleich zur zeitgleich stattfindenden Fußball-Europameisterschaft war die Copa America dann am Ende aber verantwortungsvoller organisiert: Das Turnier fand bis auf das Finale vor knapp 5.000 Fans komplett ohne Zuschauer statt und verzichtete auf große Reisen. Aber auch hier war es eine Entscheidung für das Geschäft, gegen den ausdrücklichen Rat der Mediziner.
Experten warnen vor verfrühten Lockerungen
Die Beispiele aus Argentinien und Kolumbien zeigen: Die Menschen in Lateinamerika kehren zunehmend zurück zum Alltag vor Corona, obwohl die Infektionszahlen hoch und die Warnungen der Wissenschaftler immer noch brandaktuell sind.
Carissa Etienne, Direktorin der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation, sieht die Gefahr für Lateinamerika noch längst nicht gebannt, im Gegenteil:
In Argentinien steigen die Corona-Infektionen stark an. Es sei der „schlimmste Moment der Pandemie“, sagt Präsident Alberto Fernández.
Die Politik zwischen Mexiko und Chile tut sich schwer mit der richtigen Herangehensweise: Mexiko und Brasilien versuchten es mit einem Öffnungskurs und haben den mit hohen Todeszahlen bezahlt. Argentinien setzte dagegen lange auf einen harten Shutdown-Kurs, weist aber proportional ähnlich hohe Todeszahlen auf.
Spagat zwischen Wirtschaft und Rat von Medizinern
Inzwischen rücken nahezu alle Länder Lateinamerikas von drastischen Maßnahmen ab, lassen die Entwicklung laufen und hoffen auf eine wirtschaftliche Erholung. Die Politik steckt in einem Dilemma: Dem Rat der Mediziner folgen, die deutlich schärfere Maßnahmen fordern - oder den Wirtschaftsexperten glauben, die erklären, weitere Shutdown-Strategien könnten der ohnehin schon stark in Mitleidenschaft gezogenen Volkswirtschaft endgültig den Todesstoß versetzen.
In nahezu allen Ländern sind die Armutsraten und Arbeitslosenzahlen deutlich gestiegen. In Kolumbiens Hauptstadt Bogota versucht sich die lokale Politik an einem Kompromiss. Wiederöffnung unter freiem Himmel heißt das Konzept, mit dem vor allem die Gastronomie wiederbelebt werden soll. Die Menschen nehmen es dankbar an.
- Geimpfter Norden, vergessener Süden
Zwischen der reichen nördlichen Hemisphäre und dem ärmeren Süden klafft bei der Impfstoff-Versorgung eine dicke Lücke. Nun wächst in Lateinamerika der Ärger über den Westen.