Mit immer mehr Geimpften verändert sich der Zusammenhang zwischen Infektionszahlen und der Belastung auf das Gesundheitssystem. Damit wird auch die 7-Tage-Inzidenz weniger wichtig.
Es ist für viele morgendliche Routine geworden, erstmal das tägliche Inzidenz-Update der Corona-Infektionen in Deutschland und meist noch dem eigenen Landkreis zu checken. Doch genau diese Kenngröße soll nach Berichten der "Bild"-Zeitung künftig eine kleinere Rolle spielen als bisher. Als zusätzlichen Leitindikator wolle das Robert-Koch-Institut demnach die Anzahl der Krankenhauseinweisungen zur Einordnung des Pandemiegeschehens in Deutschland heranziehen. Das gehe aus einer internen Präsentation des RKI hervor.
Bundesgesundheitsministerium hält an Inzidenz fest
Das Bundesgesundheitsministerium, zu dessen Geschäftsbereich auch das RKI gehört, erklärte am Vormittag, dass man die Inzidenz als Größe zur Beurteilung der Lage keinesfalls aufgebe. Es sei aber richtig, dass die Inzidenz bei steigender Impfquote an Aussagekraft verliere.
Das Ministerium hatte am Wochenende bekanntgegeben, dass Kliniken künftig mehr Details zu Covid-19-Fällen melden sollen. Neben der Belegung von Intensivstationen sollen alle Krankenhauseinweisungen wegen Corona übermittelt werden, zuzüglich Alter, Art der Behandlung und Impfstatus der Patienten. Die entsprechende Verordnung ist auf den Weg gebracht worden.
Intensivstationen sind ausgelastet - aber nicht mit Covid-Patienten
Wie sieht es aus auf den Intensivstationen? Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) meldet für den 12. Juli 2021 eine Auslastung der Intensivbetten von 80 Prozent. 20.464 Betten sind demnach aktuell belegt. Jedoch sind nur 435 Betten (1,7 Prozent) von Patientinnen und Patienten mit Covid-19 belegt. 278 davon müssen beatmet werden.
Wo steht die Inzidenz aktuell?
Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt - wenn auch nur leicht - seit sechs Tagen wieder an. Laut RKI liegt sie aktuell bei 6,4 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. Die Gesundheitsämter in Deutschland haben dem RKI binnen eines Tages 324 Corona-Neuinfektionen gemeldet. Zum Vergleich: Vor einer Woche hatte der Wert bei 212 Ansteckungen gelegen. Deutschlandweit wurden den neuen Angaben zufolge binnen 24 Stunden zwei Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche war es ein Toter gewesen.
Virologe: Infektionszahlen und Hospitalisierungen nicht mehr parallel
Für den Frankfurter Virologen Martin Stürmer ist die Diskussion um die "'richtigen' Werte zur Steuerung der Maßnahmen" nicht neu. Es sei weiterhin wichtig, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. In der Vergangenheit hatten sich die Infektionszahlen in etwa parallel mit der Belegung der Intensivbetten und den Todesfallzahlen entwickelt.
Daher könne man mehr Infektionen tolerieren und Maßnahmen erst dann wiederergreifen, wenn die Krankenhäuser voller werden.
Unsicherheitsfaktor Delta-Variante
Diese neue Einschätzung der Lage lasse jedoch zwei Aspekte außer Acht, so Stürmer: Zum einen könne der Schweregrad von Infektionen mit der Delta-Variante des Coronavirus noch nicht vollumfänglich eingeschätzt werden.
In England wird dieser Weg der Risikobewertung aktuell sehr konsequent durchgezogen. Trotz rasant steigender Infektionszahlen werden die Corona-Maßnahmen aufgehoben. Man verlasse sich dort vollkommen auf die Impfung und die damit einhergehende deutlich reduzierte Wahrscheinlichkeit für schwere Verläufe und Todesfälle.
Diesen Schritt hält Stürmer allerdings aufgrund der Impfquoten sowohl für England als auch für Deutschland für zu früh.
Außerdem bestehe durch mehr Infektionen weiterhin die Gefahr, das eine Virus-Variante entsteht, die gegen die Impfstoffe resistent ist.
Die Bundesregierung will eine möglicherweise drohende Rückkehr zur sogenannten Bundesnotbremse bei steigenden Infektionszahlen nicht mehr automatisch an den Anstieg auf eine Sieben-Tage-Inzidenz knüpfen. Man werde dies notfalls in Abhängigkeit der Fallzahlen, der Fortschritte beim Impfen und der wissenschaftlichen Einschätzung entscheiden, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am Vormittag. Auch er betonte, dass sich der Zusammenhang zwischen Fallzahlen und der Zahl der Intensivpatienten möglicherweise verändert habe.