Wie der nächsten Corona-Welle begegnen? Die Expertenkommission zur Bewertung der bisherigen Maßnahmen gibt der Politik wenig konkrete Empfehlungen. Die Bilanz fällt gemischt aus.
Ein Gremium mit knapp 20 Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen hat eine Evaluation der bisherigen Coronamaßnahmen vorgestellt. Fehler sollen im Herbst vermieden werden.
Mit welchen Maßnahmen kann die Politik die Bevölkerung bestmöglich vor der nächsten Corona-Welle schützen? Die Ampel-Koalition hatte vereinbart, den Bericht der Expertenkommission abzuwarten, die die bisherigen Corona-Maßnahmen bewerten sollte. Heute legten die Sachverständigen ihre Ergebnisse vor. Der Bericht enthält allerdings wenige konkrete Empfehlungen für eine künftige Krisenpolitik.
Nicht zuletzt aufgrund der unzureichenden Datenlage seien präzise Bewertungen einzelner Schutzmaßnahmen schwierig, sagte die Virologin und stellvertretende Vorsitzende der Kommission, Helga Rübsamen-Schaeff. Es seien Maßnahmenbündel gleichzeitig ergriffen worden, die man nicht auseinanderrechnen könne, sagte der Bonner Virologe Hendrik Streeck.
Wie effektiv waren die Corona Maßnahmen? Ein Gutachten hat die vergangenen Maßnahmen bewertet. Die Erkenntnisse ordnet ZDFheute live zusammen mit Epidemiologe Klaus Stöhr ein.
Die Ergebnisse der Expertenkommission im Überblick:
Lockdowns
- Die Reduktion enger physischer Kontakte führt zur Verringerung von Ansteckungen.
- Sind erst wenige Menschen infiziert, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker. Daher sind sie in der frühen Phase am effektivsten.
- Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen ihn mitzutragen bereit sind, "desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen".
Kontaktnachverfolgung
- Die Kontaktnachverfolgung ist vor allem in der Frühphase der Pandemie wirksam.
- Um den Nutzen zu erhöhen, ist eine bessere Digitalisierung der Infektionserfassung mit bundesweit einheitlichem System unabdingbar.
Welche Bedeutung hat die Evaluation der Coronamaßnahmen für die Politik im Herbst? Dazu eine Einschätzung von ZDF-Korrespondent Theo Koll.
2G/3G-Maßnahmen
- Den Schutzeffekt der 2G/3G-Maßnahmen bewertet der Ausschuss - bei den derzeitigen Corona-Varianten - als hoch in den ersten Wochen nach Boosterimpfung oder Genesung.
- Bei Zugangsbeschränkungen aufgrund (drohender) Überlastung des Gesundheitswesens oder hohem Infektionsgeschehen werden Corona-Tests empfohlen - unabhängig vom Impfstatus.
Schulschließungen
- Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen ist nach wie vor ungeklärt, auch weil in den Schulen viele Maßnahmen zeitgleich eingesetzt wurden. Der Effekt von Einzelmaßnahmen konnte deshalb nicht bewertet werden.
- Da Schulschließungen aber auch deutlich erkennbare Auswirkungen auf das Kindeswohl haben, empfehlen die Sachverständigen, diese "nicht-intendierten" Folgen durch eine Kommission genauer bewerten zu lassen.
Masken und Maskenpflicht
- Aufgrund der Studienlage kommen die Expertinnen und Experten zum Schluss, dass das Tragen von Masken ein wirksames Instrument der Pandemiebekämpfung sein kann.
- Voraussetzung: Die Maske sitzt passgenau und liegt eng an.
- Deshalb sollte künftig in der Kommunikation ein Fokus auf die Aufklärung über das richtige Tragen von Masken gelegt werden.
- Alltagsmasken erreichen - im Vergleich zu medizinischen Masken - eine unsichere Schutzwirkung.
- Da die Ansteckungsgefahr in Innenräumen größer ist, sollte eine Maskenpflicht künftig auf Innenräume und Orte mit höherem Infektionsrisiko beschränkt bleiben.
- Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken sei aber "aus den bisherigen Daten nicht ableitbar".
Psychosoziale Auswirkungen
- Die Studien für Deutschland und andere Länder belegen, dass die Pandemie vor allem für Frauen und jüngere Menschen erhebliche psychosoziale Auswirkungen hatte.
- Künftig sollten daher - als fester Bestandteil des Pandemie-Managements - ausreichende präventive Maßnahmen und therapeutische Angebote bereitgestellt werden.
- Zudem müsse ein Mindestmaß an sozialen Kontakten auch zu engen Bezugspersonen gewährleistet bleiben.
- Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Kinder und Jugendliche gerichtet werden.
Folgen für Familien und vulnerable Gruppen
- Die Experten empfehlen, sozial bedingte Ungleichheit als eigenständiges Thema der Pandemiepolitik zu behandeln.
- Dazu gehöre, Ausweichmöglichkeiten für Menschen zu schaffen, die sich in ihrem gewohnten Umfeld nicht genug gegen Infektionen schützen können.
- Dazu zählt auch, zielgruppengerecht zu informieren, etwa über Masken oder Impfaktionen.
- Durch den Wegfall von Kinderbetreuungmöglichkeiten wurden vor allem Mütter eingeschränkt, Corona-Hilfen kamen vor allem männlichen Erwerbstätigen zugute. Dieser "Gender Impact" müsse in der Pandemiepolitik ebenfalls berücksichtigt und ausgeglichen werden.
Wirtschaftliche Folgen
- Positiv bewerten die Sachverständigen die frühzeitige und große finanzielle Hilfe für Unternehmen von Bund und Ländern: Die Wirtschaftshilfen haben einen großen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert ebenso wie einen starken Einbruch der Wirtschaftsleistung.
Das Infektionsschutzgesetz
- Für das Infektionsschutzgesetz besteht aus Sicht der Expertinnen und Experten erheblicher Reformbedarf aufgrund der Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive.
- Die Sachverständigen empfehlen, statt eines spezifischen Gesetzes für eine Pandemie die Befugnisnormen zu schaffen, die für alle Krankheitserreger und möglichen Pandemielagen gelten.
Die Mitglieder der Sachverständigenkommission wurden je zur Hälfte von der Bundesregierung sowie vom Bundestag benannt. Das Ergebnis der Evaluierung wird der Bundesregierung vorgelegt, die dazu eine Stellungnahme abgeben wird.
Für den Herbst muss die Bundesregierung mit den Ländern eine Anschlussregelung finden, weil die zum Frühjahr stark zurückgefahrenen Corona-Bestimmungen im Infektionsschutzgesetz als bundesweite Rechtsgrundlage am 23. September auslaufen.