Geimpfte, Getestete, Genesene dürfen bald mehr. Das ist richtig. Doch das ist eher Zufall. Nach 14 Monaten Corona wirkt vieles improvisiert, aus dem Bauch. Und das geht so weiter.
Pünktlich zum Muttertag und der Wetteraussicht auf Frühsommer soll es nun so weit sein: Zweifach Geimpfte, negativ Getestete, Covid-Genesene werden gleich behandelt. Untereinander gleich gut, und mit allen anderen gleich beschränkt, da ja Restaurants für sie - noch - nicht öffnen. Das ist alles absolut richtig.
Niemand hat etwas davon, wenn Geimpfte weiter einen Test beim Einkauf vorlegen müssen, wenn in Alten- und Pflegeheimen jeder allein im Zimmer essen muss, wenn sich Geimpfte und Geimpfte nicht zusammensetzen dürfen. So viel Miteinander, so viel Gönnen ist dieser Gesellschaft zuzutrauen. Und trotzdem bleibt ein Trotzdem.
Aus dem Bauch, improvisiert, wenig durchdacht
Trotzdem bleibt der Eindruck, dass diese Lockerung nicht der Schritt in die Normalität ist. Sondern eher Zufall. Nach wie vor hat die Pandemie uns in Griff. Nicht wir die Pandemie. Selbst nach 14 Monaten, die durch die Mutanten vieles Unplanbare in sich hatte, wirkt das meiste improvisiert, aus dem Bauch, wenig durchdacht.
Seit der ersten Impfung am 27. Dezember wusste jeder, dass diese Situation kommen wird: Wie geht die Gesellschaft damit um, wenn immer mehr geimpft sind, ein Teil aber nicht? Schon damals war klar, dass der Impfstoff nicht ausreichend ist, dass es bis zur Herdenimmunität Monate dauern kann.
Als die Politik diese bis Ende Mai führen wollte, war die Gesellschaft schon längst weiter, dass man nun nachgeben und schnell die Gleichstellung in Turbogeschwindigkeit organisieren musste. Nur aus Angst, dass die Gerichte ihr zuvorkommen, hat die Bundesregierung überhaupt reagiert. Diese "Huch"-Politik hat System.
Spahnsche Empirie am Küchentisch
Beim Impfstoff Astrazeneca zum Beispiel zeigt sich das schon wieder. Lassen wir dieses ganze Hin-und-her zur Zulassung mal weg und gestehen zu, dass am Anfang einer neuen Pandemie nicht alle Studien vorliegen und es deswegen zur Zulassung mal bis 60, dann über 60, dann für alle kommen kann. Schlimm genug, weil verunsichernd, aber geschenkt. Die nun mögliche Verkürzung der Zweitimpfung von zwölf auf drei Wochen hat aber wieder etwas von "Huch".
Minister Spahn hat das heute in seiner wöchentlichen Corona-Pressekonferenz erschreckend offen erzählt, was Grundlage seiner Politik ist. Wenn der Abstand auf drei Monate ausgereizt wird und die Aussicht auf die Zweitimpfung erst im August ist, hätten viele "keine Lust auf diesen Impfstoff".
Das sei zwar "Spahnsche Empirie" in seiner Familie, in seinem Freundeskreis. Die Diskussion am Küchentisch aber habe sich überall verändert. Und er zitiert den früheren Unions-Fraktionschef Volker Kauder: "Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit."
Drei, zwölf Wochen für Zweitimpfung - was denn nun?
Ehrlicher wäre gewesen: Politik beginnt mit der Betrachtung des nahenden Sommerurlaubs und der Angst vor dem Wahlkampf. Im August sind die meisten Sommerferien vorbei, also hätten sich jetzt viele um die anderen Impfstoffe bemüht, um eben nicht warten zu müssen. Astrazeneca wäre noch mehr zum Ladenhüter geworden.
Spahn sagt, jede Erstimpfung mache einen Unterschied. Bei Astrazeneca den vollen Schutz mit der zweiten länger hinauszuschieben, sei aber besser. Irgendwie. Beides geht. RKI-Chef Wieler will sich auf jeden Fall erst nach zwölf Wochen wieder impfen lassen. Das müsse jeder selbst verantworten und mit dem Arzt zusammen entscheiden. Kommt noch jemand mit?
Zur Betrachtung der Wirklichkeit gehört nun mal auch: Durch frühere Zweitimpfung mit Astrazeneca fehlt Impfstoff für die erste. Durch den Run auf Astrazeneca, um den Sommerurlaub zu ermöglichen, werden die Hausärzte belastet und die Verunsicherung größer. Und: Reicht der Impfstoff dafür überhaupt? "Wir haben den Bedarf bis jetzt immer gedeckt, wir werden ihn auch jetzt decken", sagt Spahn. Interessant, das dürften viele anders in Erinnerung haben.
Neue Themen der "Huch"-Politik
Man ahnt, die nächsten Themen der "Huch"-Politik bahnen sich schon an. Der digitale Impfpass soll bis Ende Juni kommen. Die technische Abläufe stehen schon seit längerem fest. Unklar ist die Umsetzung: Sollen Apotheker ihn auch ausstellen oder nur der Arzt oder wie?
Jugendliche sollen ab Juni bis August geimpft werden, wenn die Europäische Arzneimittelbehörde Biontech für ab Zwölfjährige zulässt. Wer macht es: Schule, Impfzentrum, Schulärzte, woher und wohin kommt der Impfstoff? Juni ist in drei Wochen. Auch daran könnte mancher Urlaubstraum platzen, dass die geimpften Eltern fahren könnte, ihre ungeimpften Kinder aber leider zuhause bleiben müssen.
- Ethikrat-Chefin: Spiele in Tokio "schwierig"
"Wirklich sehr schwierig": Ethikrat-Chefin Buyx hält nichts von der Austragung der Olympischen Spiele im Sommer. Auch in Japan wächst die Kritik.
Und was sagte Kanzlerin Merkel heute? "Die 70- bis 79-Jährigen sind noch nicht alle geimpft." Auf die Initiativen, das nachzuholen, darf man gespannt sein. Wie gut, dass wenigstens die Teilnehmer der Olympischen Spiele im Tokio geimpft sein. Was für ein Glück!
Spannung aushalten? Nein, muss man nicht
Minister Spahn sagt heute, man lebe jetzt eben in einer Spannungssituation. Überall gebe es Geimpfte und Nichtgeimpfte. "Eine Spannung, die wir aushalten müssen." Müssen?
Und darf sich über sein "Huch“ im Herbst nicht wundern.