Seit Beginn der Corona-Pandemie wird die Ständige Impfkommission für späte Entscheidungen kritisiert. Stiko-Chef Mertens räumt erstmals Fehler ein, etwa beim Boostern.
Die vierte Corona-Welle macht Deutschland erheblich zu schaffen. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, hat erstmals Versäumnisse eingeräumt. Bestimmte Entscheidungen der Kommission seien "aus der heutigen Perspektive" zu spät erfolgt, sagte Mertens in der ARD-Sendung "Panorama". So wäre es "wahrscheinlich günstiger gewesen, mit dem Boostern früher anzufangen".
Mertens erklärte dies unter anderem mit dem Vorlauf, den die Stiko für eine Entscheidung benötige. Man müsse zuerst definieren, welche Daten gebraucht werden, um zu einer Empfehlung kommen zu können. "Und wenn das festgelegt ist, dann müssen diese Daten erhoben, erarbeitet werden. Und wenn diese Daten vorliegen, dann fängt die Stiko an, diese Daten zu diskutieren."
Israelischer Experte kritisiert Stiko
Ronnie Gamzu, der ehemalige Leiter des israelischen Impfprogrammes, zeigte sich in der Sendung schockiert über die Langsamkeit der deutschen Kolleginnen und Kollegen:
"Es gab keine wissenschaftliche Basis dafür zu sagen, die Auffrischungsimpfung bringe nur den über 65- oder über 70-Jährigen etwas. Wir haben gesehen, dass die Zahl der Antikörper auch bei 40-Jährigen zurückgeht. Was für Beweise braucht man denn noch?", sagte Gamzu.
Dank hervorragender Logistik hat mittlerweile ein Drittel der israelischen Bevölkerung die erste Impfung erhalten. Kritik ist trotzdem angemessen.
Mertens entgegnete, man habe die "israelischen Daten und die Evidenz erst aufarbeiten" müssen. Der Vergleich mit Israel sei in vielen Punkten nicht möglich. Die Evidenz in einem anderen Land sei eben nicht einfach übertragbar.
Stiko-Chef: Empfehlungen hängen auch an äußeren Faktoren
Mertens betonte, es sei nicht Aufgabe der Stiko, die "Umsetzung der Impfung" zu organisieren und über Impfstoffbeschaffung und -verteilung zu befinden, Gleichzeitig räumte Mertens ein, dass genau solche Faktoren Einfluss auf die Stiko hätten: "Das sehen Sie an der Frage der Empfehlung der über-70-Jährigen", so Mertens.
"Da nicht absehbar war, dass wir in unserer Bevölkerung so schnell wie in Israel eine Durchimpfung vornehmen können, musste man auf jeden Fall zunächst die Menschen schützen, die auch ein hohes Risiko für schwere Erkrankung haben. Und das war der Hauptgrund für diese Empfehlung."
Demnach habe die Stiko nicht aufgrund der reinen Datenlage zugunsten der über 70-Jährigen entschieden, sondern auch aufgrund der schlechten deutschen Impf-Infrastruktur. Diese wurde während der vergangenen Monate durch die bundesweite Schließung der Impfzentren sogar weiter abgebaut - ohne, dass die Kommission öffentlich dagegen protestiert hätte.
Viele späte Entscheidungen der Stiko
Schon seit Beginn des Jahres hatte die Stiko für ihre Entscheidungen in der Pandemie länger als andere gebraucht: So empfahl die Kommission noch bis zum 10. September keine Impfung von Schwangeren, während die USA und Israel bereits seit Juli 2021 dringend dazu rieten. Das Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf hatte bereits am 3. Mai dringend zur Schwangeren-Impfung geraten, weil Schwangere ein viel höheres Risiko eines schweren Corona-Verlaufs hätten.
Auch bei der Impfempfehlung für Jugendliche ab zwölf Jahren ließ sich die Stiko Zeit. Dabei hätte die rechtzeitige Impfung wohl auch weitere Lockdowns von Schulen verhindern können. Für den Ulmer Hausarzt Christian Kröner völlig unverständlich: