In mehreren Bundesländern ist die Pandemie trotz Impfung so schlimm wie vor einem Jahr. Harte Gegenmaßnahmen bleiben aus. Forschende kritisieren die Untätigkeit der Politik.
Vor einem Jahr steckte Deutschland tief im November-Shutdown. Die Gastronomie hatte geschlossen, nur Treffen von zwei Haushalten waren gestattet. Die Logik damals: Nur mit harten Maßnahmen kommt man sicher durch den Winter und vor allem die Weihnachtsfeiertage.
Es waren kritische Tage. Am 14. November 2020 veröffentlichte die Bundesregierung etwa den viel diskutierten "Corona-Helden"-Werbespot, der Bürger zum Daheimbleiben aufrief.
"Das Virus bestraft Halbherzigkeit", sagte Merkel damals. Trotz dieser Maßnahmen starben zwischen November 2020 und Februar 2021 in Deutschland fast 50.000 Corona-Infizierte. Das Fazit danach: Nie mehr wieder wollte man in so eine Notlage kommen.
So viele Corona-Tote pro Tag wie im November 2020
Bei den Infektionszahlen hat Deutschland das Jahr 2020 längst hinter sich gelassen. Seit Tagen verkündet das Robert-Koch-Institut Rekordwerte. Dank der Impfstoffe, die schwere Erkrankungen oft verhindern, ist die Inzidenz nicht der wichtigste Gradmesser.
Doch auch andere Werte zeigen: Wir stehen vielerorts dort, wo wir schon im November 2020 standen. Und vor allem für Ungeimpfte und Menschen mit sinkendem Impfschutz könnten die kommenden Wochen gefährtlich werden.
Am Samstag lag der 7-Tage-Schnitt der Todesfälle in Verbidung mit dem Virus bei 157 Menschen. Am 13. November 2020 waren es 156. Tendenz stark steigend. Nie zuvor gaben so viele Kliniken im Divi-Intensivregister an, ihre Intensivstationen seien nur "eingeschränkt" einsatzfähig. Auch nach fast zwei Jahren Pandemie fehlt das Personal für die aufwändige Betreuung der Covid-Patienten.
Es prallen verschiedene Corona-Welten aufeinander
Was die Lage für die Bundespolitik schwer koordinierbar macht: In den Hotspots Bayern, Sachsen und Thüringen sind die Intensivstationen gefüllt wie 2020, in anderen Teilen Deutschlands ist die Lage noch deutlich entspannter. Es prallen verschiedene Welten aufeinander: Katastrophenfall in Bayern, während in Köln Karneval gefeiert wird.
Und die Ampel-Parteien halten weiter daran fest, die epidemische Lage von nationaler Tragweite am 25. November auslaufen zu lassen. Vor allem für die teils Maßnahmen-kritische FDP hätte ein Abrücken einen hohen politischen Preis. FDP-Chef Christian Lindner verteidigte den Zeitplan in den "ARD-Tagesthemen" am Freitag - und verstieg sich dabei zur Aussage, dass Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen "nach wissenschaftlichen Untersuchungen keine Wirksamkeit" hätten.
Nach heftiger Kritik von Experten ruderte Lindner am Samstag zurück und schrieb auf Twitter, er habe lediglich an der Verhältnismäßigkeit von Ausgangssperren für Geimpfte zweifeln wollen. Der Ampel-Politiker bleibt jedoch dabei, dass es vor allem mehr Tempo bei Impf-Auffrischungen und beim Testen brauche, um die Welle zu brechen.
Ein Autorenteam um die Virologin Sandra Ciesek, die Physikerin Viola Priesemann und den Infektiologen Leif Erik Sander fürchtet, dass es dafür bereit zu spät sein könnte. Bis die Booster-Kampagne Wirkung zeige, könnten noch Wochen vergehen. Es brauche Übergangsmaßnahmen.
- War der Shutdown unnötig?
Eine neue Studie sorgt für Zündstoff: Forscher der Uni München halten den Effekt der Corona-Maßnahmen für überschätzt. Doch manche interpretieren ihren Bericht völlig falsch.
Brandbrief: Politik wird ihrer Verantwortung nicht gerecht
Der "Spiegel" nannte es am Freitag eine "idiotische Lage von nationaler Tragweite". Am gleichen Tag verfassten auch 36 Forscher und Mediziner einen ZDFheute vorliegenden Aufruf an die Politik, gegen die vierte Welle aktiv zu werden:
Gegenwärtig verlagere die Politik durch passives Abwarten zunehmend die Verantwortung ins Private, so der Vorwurf der Verfasser, darunter der Intensivmedizinerin Christian Karagiannidis, die Virologin Melanie Brinkmann und der Immunologe Carsten Watzl. "Solch eine Haltung ist bei nationalen Gesundheitskrisen dieses Ausmaßes nicht angebracht."
Ministerpräsidenten treffen sich erst am 18. November
Beim jüngsten Treffen der Gesundheitsminister am 5. November wurden lediglich Auffrischungsimpfungen für alle Bevölkerungsgruppen, Tests in Pflegeheimen und konsequentere Kontrollen der 3G-Regeln beschlossen.
Radikale Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Einschränkungen des öffentlichen Lebens kamen auch angesichts fraglicher gesetzlicher Grundlagen im Abschlusspapier nicht vor.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), eigentlich für die Bewältigung der Krise mit verantwortlich, kritisierte am Freitag die Kopflosigkeit einer Politik, die im Limbo zwischen zwei Bundesregierungen schwebt:
Erst für Donnerstag, den 18. November, sind die nächsten Bund-Länder-Beratungen zur Corona-Krise geplant. Die dort beschlossenen Maßnahmen würden dann vermutlich zum 22. November in Kraft treten. Die Corona-Zahlen werden weiter ansteigen.
- So schätzen Kliniken die Corona-Lage ein
Mit der Inzidenz steigt die Zahl der Covid-Erkrankten auf den Intensivstationen. Die Sorge vor einer Überlastung wächst erneut. Wie sehen Kliniken die aktuelle Corona-Lage?