Klinik-Triage gefährdet die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Betroffene begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht der Politik Druck macht, per Gesetz Klarheit zu schaffen.
Das Bundesverfassungsgericht fordert den Bundestag auf, "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz Behinderter im Fall einer pandemiebedingten Triage zu treffen. Dass der Gesetzgeber das bislang unterlassen hat, verletze das Grundgesetz, so das Gericht am Dienstag.
Laut Artikel 3 des Grundgesetzes habe der Gesetzgeber einen besonderen Schutzauftrag gegenüber Menschen mit Behinderungen. Eine Triage-Situation, in der Kliniken und Ärzte wegen knapper Ressourcen entscheiden müssen, wer zuerst behandelt wird, gefährde Menschen mit Behinderungen besonders.
Patientenschützer loben BVerfG-Beschluss
Sehr zufrieden mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Triage hat sich der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, gezeigt. Er hätte sich "kein besseres Urteil wünschen können", sagte Brysch am Dienstag der Nachrichtenagentur KNA.
Der Bundestag müsse nun Verantwortung übernehmen und dürfe diese nicht weiter privaten Institutionen überlassen, so Brysch. Der Vorteil einer jetzt nötigen gesetzlichen Regelung sei, dass anschließend allen der Rechtsweg offen stehe. Brysch sprach "von einem sehr wichtigen Tag" für alle Betroffenen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte das Urteil auf Twitter:
Folgen auch für Pflege und Organspende
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reicht aus Sicht der Patientenschützern weit über die Corona-Pandemie hinaus. Dass Menschen mit Behinderung bei knappen Ressourcen nicht benachteiligt werden dürfen, spiele beispielsweise auch bei Organspenden und Pflege eine Rolle, sagte Brysch der Nachrichtenagentur dpa.
Bislang habe der Bundestag Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer wegdelegiert - etwa an Fachverbände.
Auch wenn die nun zu treffenden Entscheidungen für die Bundestagsabgeordneten sicher keine einfachen seien, räumte der Patientenschützer ein. Für die nötige Diskussion müsse man sich etwas Zeit nehmen. "Das ist ein äußerst komplexes Thema", sagte Brysch. Er erwarte aber binnen eines Jahres Ergebnisse.
"Dieses Gesetz muss schnell kommen. Unverzüglich lautet der Auftrag aus Karlsruhe", erklärt ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke. Der Gesetzgeber habe einen großen Gestaltungsspielraum, wie die Regelungen genau aussehen könnten. "Ein Gesetz sollte so ausgestaltet sein, dass die Ärzte weiterhin schnell entscheiden können", sagt Tacke. Auch ein Mehraugenprinzip bei Triage-Entscheidungen und verpflichtende Weiterbildungen hätten die Richter ins Spiel gebracht.
Eine "Watsche" für Fachverbände wie Divi
Für all jene, die angesichts der bisherigen Empfehlungen behauptet haben, diese diskriminierten Menschen mit Behinderung nicht, sei der Beschluss eine "Watsche", sagte Brysch. Damit kritisiert Brysch etwa die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).
Anstelle einer gesetzlichen Regelung hatte Divi zusammen mit anderen Fachgesellschaften "klinisch-ethische Empfehlungen" für Ärzte und Klinikpersonal ausgearbeitet. Das Verfassungsgericht erläuterte nun, die Empfehlungen der Divi seien rechtlich nicht verbindlich und "kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht".
Divi selbst betonte in einer Pressemitteilung am Dienstag, dass das Bundesverfassungsgericht die eigentlichen Empfehlungen für verfassungskonform halte.
Auch die Richter haben auf die möglichen Risiken bei der Beurteilung hingewiesen, die sich aus den Empfehlungen ergeben könnten. Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird". Auch die Ärzte selbst brauchten rechtliche Gewissheit beim Treffen von Entscheidungen.
Klagende erleichtert über Entscheidung
Der Anwalt Oliver Tolmein vertrat insgesamt neun Menschen mit Behinderungen bei dieser Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Die Entscheidung in Karlsruhe begrüßte er am Dienstag. "Ein großer Erfolg, aber nicht das Ende der Auseinandersetzungen um Triage", schrieb Tolmein auf Twitter.
Eine seiner Mandanten, die Klägerin Nancy Poser, zeigte sich am Dienstag "erleichtert" über das Urteil:
Poser ist selbst Richterin am Amtsgericht in Trier. Freude verspüre sie nach dem Richterspruch nicht. "Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben - egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch", sagte die 42-Jährige, die an einer spinalen Muskelatrophie leidet.
Justizminister kündigt raschen Gesetzentwurf an
Auch der Sozialverband VdK begrüßte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Der Gesetzgeber müsse in der aktuellen Pandemie-Situation dringend handeln, teilte VdK-Präsidentin Verena Bentele mit.
Jede Benachteiligung wegen einer Behinderung müsse verhindert werden, betonte Bentele. "Die Politik muss nun unverzüglich handeln, das hat das Gericht sehr deutlich gemacht."
Bundesjustizminister Marco Buschmann hat inzwischen eine rasche Reaktion der Bundesregierung angekündigt. "Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt. Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten", schrieb er am Dienstag auf Twitter. Die Bundesregierung werde dazu zügig einen Gesetzentwurf vorlegen.
Divi-Präsidiumsmitglied Prof. Uwe Janssens kündigte gegenüber ZDFheute Nachbesserungen bei den Handlungsempfehlungen des Verbands an:
- Intensivmediziner wollen Triage besser regeln
In Triage-Situationen sind Behinderten-Rechte laut Bundesverfassungsgericht nicht ausreichend geschützt. Intensivmediziner kündigen deshalb eine Präzisierung ihrer Richtlinien an.