Gelingt es dem Bund, beim Infektionsschutz die Zügel zu übernehmen? Schärfere einheitliche Maßnahmen seien dringend nötig, mahnen Experten.
Uwe Janssens mahnt: Noch sei die Lage auf den Intensivstationen im Griff. Aber sie werde dramatisch, wenn es so weiterginge, sagte der ehemalige Präsident der Intensiv- und Notfallmedizinervereinigung DIVI bei ZDF heute live. Der Experte fordert: "Wir brauchen einen durchgreifenden Lockdown." Öffnungen wie in Tübingen oder im Saarland seien aus epidemiologischer Sicht ein "völliger Wahnsinn".
Intensivmediziner: Belastung nicht austesten
Schärfere Maßnahmen soll es jetzt geben, vor allem keinen Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen mehr - so zumindest der Plan der Bundesregierung. Nach zuletzt massivem Streit bahnt sich die Strategiewende an: Die für Montag vereinbarte Runde von Bund und Ländern fällt aus - stattdessen soll der Bundestag im Eilverfahren das Infektionsschutzgesetz nachschärfen.
Es müsse "endlich eine Linie geben", appelliert auch Janssens an die Politik: Ginge es mit den Infektionszahlen so weiter, gebe es "in Nullkommanichts 2.000 bis 3.000 zusätzliche Covid-Intensivpatienten. Er verweist auf das hohe Sterberisiko: Es liege bei beatmeten Covid-Patienten bei 50 Prozent.
Hier gehe es um Menschenleben. Und da müssten sich Gesellschaft und Wirtschaft fragen lassen:
Das gelte auch für die Belastung der Mitarbeiter in den Kliniken. Das sei nicht fair und auch unmoralisch. Ein erheblicher Prozentsatz denke bereits über einen Jobwechsel nach, so Intensivmediziner Janssens.
Beim Impfen gebe es zwar große Fortschritte, fügt er hinzu, aber: Wir sind weit entfernt von einer ausreichenden Durchimpfung der Risikopopulation. Bis sich ein Impferfolg einstelle, brauche es seine Zeit.
Lauterbach kritisiert "Alibi-Modellversuche"
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kritisiert in der Sendung die jüngsten "Alibi-Modellversuche". Die Lockerungen hätten zu mehr Infektionen geführt und zudem das Signal vermittelt, der Lockdown sei nicht wirklich ernst gemeint. Jetzt stehe man vor den Konsequenzen. "Es ist klar, dass die Intensivkapazitäten in den kommenden Wochen komplett ausgetestet werden wird."
Lauterbach mahnt: Wir werden verschärfte Maßnahmen beschließen müssen. Dass der Bundestag tätig werde, reiche allein nicht. Im Gesetz müsse auch der richtige Inhalt stehen, dann "kann man damit arbeiten". Konkret fordert der SPD-Politiker, dass ab einer Inzidenz von 100 nicht mehr gelockert werden dürfe, auch nicht mehr mit Modellen. Zudem sprach er sich für eine Ausgangssperre aus sowie eine Testpflicht in Betrieben.
Wenn das ein Bundesgesetz verbindlich regele, "dann wäre das tatsächlich ein wesentlicher Schritt nach vorne".
Länder unter Zugzwang
Dass der Bundestag beim Infektionsschutz jetzt die Zügel in die Hand nehmen will, sei "letztendlich nichts anderes als eine Entmachtung der Länder", erläutert ZDF-Rechtsexperte Felix Zimmermann. Und es sei auch eine "Bankrotterklärung der Länder, dass sie es selbst nicht geschafft haben, und von oben quasi ein Gesetz brauchen".
Allerdings müsse auch der Bundesrat in irgendeiner Weise eingebunden werden. Tatsächlich hätte er die Möglichkeit, es herauszuzögern. Es dränge sich die Frage auf: Wenn die Länder in der Vergangenheit die Dinge nicht regeln wollten, warum sollten sie jetzt zustimmen, dass der Bundestag die Federführung übernehme, so Zimmermann. "Da fällt mir eigentlich nur eine Antwort ein: Die Verantwortung abzuschieben. Dann waren’s nicht wir, dann war’s eben der Bund."
Lauterbach formuliert es eher als Entlastung: Bislang sei es nicht möglich gewesen, die Länder auf eine Linie zu bringen. Wenn das nun durch ein Bundesgesetz gelinge, dann entlaste das die Länder in ihrer Verantwortung. "Ich glaube nicht, dass die Länder das blockieren oder auf Zeit spielen." Dann würden sie erläutern müssen, warum nichts passiert.