Experten des Mediziner-Netzwerks EbM kritisieren die Corona-Berichterstattung der Medien. Auch der Virologe Streeck rät, nicht nur auf die reinen Infektionszahlen zu schauen.
Die Kritik des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin e.V. (EbM-Netzwerk) ist heftig. In einer Stellungnahme ist die Rede von "irreführender Darstellung in den Medien" und "absurden Informationen" in "missverständlichen Ranglisten". Selbst in den Leitmedien seien beispielsweise zur Beschreibung des Infektionsrisikos über Monate "lediglich Fallzahlen ohne Bezugsgrößen" genutzt worden.
Dabei werde oft nicht zwischen Testergebnissen, Diagnosen, Infektionen und Erkrankungen differenziert. Gegenüber ZDFheute erklärt die Co-Autorin des Papiers, Dr. Ingrid Mühlhauser: "Positive Testergebnisse sind noch keine Krankheiten, Genesene sind keine Erkrankungsfälle mehr."
Je mehr Tests, desto mehr positive Fälle
Solche Informationen sollten nach Ansicht des EbM-Netzwerks generell im Kontext dazu gegeben werden: "Gerade für Covid-19 wäre wichtig zu wissen, wie viele Personen tatsächlich so krank sind, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen", schreiben die Autoren.
Die steigende Zahl der Corona-Infektionen hängt - nicht nur aber auch - mit der gestiegenen Anzahl der Tests zusammen. Experten raten, nicht nur auf die reine Anzahl der positiven Tests zu schauen.
Zusätzlich müsste dazu gesagt werden, wie sich die Anzahl der Tests insgesamt entwickelt hat. Das EbM-Netzwerk erinnert daran:
Mit Blick auf diese möglichen falschen Positiv-Tests fordert Mühlhauser, dass die Bedeutung eines positiven Testergebnisses erklärt werden müsste. "Ein positives Testergebnis sagt noch nichts darüber aus, ob eine Person infiziert oder erkrankt ist oder wie hoch das Ansteckungsrisiko ist", so Mühlhauser.
Was ist dran, an dieser These?
Tatsächlich ist die Anzahl der falsch-positiven Testergebnisse so gering, dass sie bei der Beurteilung des Infektionsgeschehens so gut wie keine Rolle spielt. Warum wird in diesem Faktencheck erklärt.
Das EbM-Netzwerk ist mit seiner Forderung nicht allein. Auch der Bonner Virologe Hendrik Streeck fordert, die Zahlen genauer anzuschauen. In einem Interview mit der "Welt am Sonntag" sagt er:
Zwar steige die Zahl der positiv getesteten Menschen in Deutschland und Europa signifikant an. "Gleichzeitig sehen wir aber kaum einen Anstieg der Todeszahlen", so Streeck. Als Gründe dafür nennt er die vielen, "sehr sensitiven Tests", dass Menschen Maske tragen und so die Infektionsdosis niedriger sei sowie eine hohe Infektionsrate unter jüngeren Menschen.
Insofern könne man Zahlen auch anders lesen, denn gesellschaftlich betrachtet seien Infektionen ohne Symptome nicht zwangsläufig schlimm, erklärt Streeck:
EbM kritisiert fragwürdige Ranglisten in den Medien
Ein weiterer Kritikpunkt des EbM-Netzwerks: Dass in Medien Ranglisten von Fällen für einzelne Regionen veröffenlicht werden, ohne Bezugsgrößen zur Einwohnerzahl. Diese Zahlen seien ohne die Bezugsgrößen "irreführend und nicht interpretierbar", so Mühlhauser auf Nachfrage von ZDFheute. "Die Daten müssten in Bezug auf konstante Referenzgrößen, einen Nenner, gesetzt werden."
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In Zahlengrafiken von ZDFheute werden deshalb die gemeldeten Infektionen regelmäßig auch ins Verhältnis zur Einwohnerzahl der jeweiligen Region beziehungsweise des Landes gesetzt, um sie besser interpretieren zu können.
Zwar sind beispielsweise die USA das Land mit den meisten gemeldeten Coronainfektionen weltweit. Doch im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind andere Staaten weitaus schlimmer von der Pandemie betroffen:
Während es in den USA bisher rund 1.970 gemeldete Infektionen auf 100.000 Einwohner gibt, sind es in in Katar mit fast 4.000 Fällen pro 100.000 Einwohner mehr als doppelt so viele (wobei es sich um die Gesamtzahl der gemeldeten Fälle und nicht um akute Fälle handelt). Auch in Brasilien, Peru, Kuwait oder Chile gibt es im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich mehr festgestellte Infektionen.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wurde am 17.09.2020 um Aussagen der Autorin Ingrid Mühlhauser ergänzt.
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