Sollen die Corona-Einschränkungen gelockert werden? Wenn ja, nach welchem Prinzip? Der Vorschlag von Merz war ungünstig formuliert, ist aber vielleicht die sinnvollste Strategie.
Vor ein paar Tagen hat sich der von Covid-19 genesene CDU-Politiker Friedrich Merz in der öffentlichen Debatte zurückgemeldet. Einer seiner Vorschläge lautete, man müsse die Corona-Einschränkungen jetzt mithilfe des Prinzips von "Versuch und Irrtum" lockern. Also: mal sehen, wie etwas wirkt – und es gegebenenfalls wieder zurücknehmen.
Das war denkbar ungünstig formuliert. Es klang ein wenig nach Menschenversuch. Nach dem Motto: Mal sehen, wie viele bei dieser Maßnahme draufgehen.
Aber: Es ist - vielleicht - die sinnvollste Strategie.
1. Entscheiden unter Unsicherheit
Die Abwägung, die die Runde aus Kanzlerin und Ministerpräsidenten diese Woche treffen muss, könnte härter kaum sein: Jetzt die Maßnahmen lockern – und ein erneut schnelles Ansteigen der Infektionen riskieren? Oder eben nicht lockern – und eine noch härtere Rezession herbeiführen?
Das Problem dabei: Die Politik kennt nur einen Bruchteil der nötigen Daten. Niemand weiß, wie groß die Ansteckungsrate in Kitas oder kleinen Geschäften wirklich ist. Welche Folgen hätte eine gezielte Lockerung? Man kann bloß vermuten – entscheiden muss die Politik trotzdem.
Ab Dienstag will Österreich den Handel wieder hochfahren. Vor 75 Jahren wurde das KZ Bergen-Belsen befreit. Und: Am Mittwoch vor einem Jahr brannte die Kathedrale Notre Dame in Paris.
2. Auf Nummer sicher gehen?
In solchen Fällen wählen Politiker oft die vermeintlich sicherste Variante - um sich später nicht dem Vorwurf des Nichthandelns ausgesetzt zu sehen.
Innenminister Seehofer verwies zuletzt auf seine eigene Erfahrung als Gesundheitsminister in den 90er Jahren. Beim damaligen Skandal um HIV-verseuchte Blutkonserven habe er gelernt: Wer zu zaghaft reagiert, muss später vor einen Untersuchungsausschuss.
Übersetzt auf diese Krise heißt das: lieber zu lange einschränken – als zu kurz. Man will ja nicht verantwortlich sein für Todesfälle.
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Nur: Andersherum geht es eben auch um Menschenleben. Jede Rezession führt später zu einem Sinken der Lebenserwartung, das haben zahllose Studien nachgewiesen.
Diese Toten allerdings tauchen in keinem Liveticker der Welt auf.
3. Tastendes Vorgehen in der Corona-Krise
Im "Spiegel" wehrt sich der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann (B’90/Die Grünen) heftig gegen die Idee, bei einem Wiederanstieg der Infektionen die Beschränkungen erneut einzuführen. Das "wäre schwer zu verkraften, sowohl für unsere Wirtschaft als auch für die Gesellschaft." Ein Argument dafür bleibt Kretschmann schuldig. Wäre eine bloße Verlängerung der Maßnahmen nicht noch schwerer zu verkraften?
Noch messen Meinungsforscher breite Zustimmung zu Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen – doch die erzwungene Einsamkeit wird zunehmend belastender. Vielen würde allein die Perspektive gut tun, dass dieser Lockdown irgendwann ein Ende hat.
In Zeiten der Unsicherheit bleibt der Politik nichts anderes übrig als "tastend" vorzugehen, so wie es der Ethikrat vor Ostern empfohlen hat. Und ständig zu prüfen, wie welche Maßnahmen wirken.
Wenn die Politik Einschränkungen lockert – und ein paar Wochen später aufgrund neuer Daten wieder einführt, ist das kein Politikversagen. Es wäre das angemessene Handeln in dieser Krise.
4. Wer verlängert, muss sich rechtfertigen
Viele der Eingriffe in das persönliche Leben der Bundesbürger waren notwendig – und zeigen Wirkung. Aber sie sind eben auch so gravierend, wie man sie sich nie hätte vorstellen können. Deshalb sollte die Rechtfertigungslast in der öffentlichen Debatte umgekehrt werden: nicht wer sie aufheben will, muss sich zuerst rechtfertigen – sondern der, der verlängern möchte.
Wenn es dann gute Gründe dafür gibt, muss die Politik den Bürgerinnen und Bürgern diesmal liefern, was sie bislang schuldig blieb: klare, nachvollziehbare Kriterien, wann die Maßnahmen wieder aufgehoben werden können.
Andernfalls dürfte die bisher so hohe Akzeptanz ziemlich bald bröckeln.
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