Empfehlungen statt Anordnungen: Schweden geht einen eigenen Weg in der Corona-Krise. Doch die Behörden steuern nach. Der Chef-Epidemiologe räumt inzwischen Versäumnisse ein.
Schweden geht in der Corona-Krise von Beginn an einen Sonderweg. Setzt stark auf Eigenverantwortung statt auf Verbote. Das fordert zahlreiche Opfer.
Pfarrer Jörg Weißbach von der Tyska Kirkan in Stockholm geht durch das leere Kirchenschiff. Seit Wochen sind in der Stadt Gottesdienste verboten. Zu groß ist die Angst vor einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus.
Weißbach, der vor einigen Jahren von der Nordseeinsel Föhr an die Kirche in Stockholm gekommen ist, kennt beide Wege, mit der Pandemie umzugehen: Den strengen deutschen des Lockdowns und den vergleichsweise lässigen der Schweden. Der spricht statt Anordnungen Empfehlungen aus, die das öffentliche Leben im Land nicht so stark abwürgen wie in Deutschland: Clubs und Restaurants dürfen genauso öffnen wie Schulen und Flohmärkte.
Epidemiologe Tegnell räumt Versäumnisse ein
Aber auch in Stockholm sind die Empfehlungen inzwischen durchaus streng geworden: So sollen die Passagiere an den U-Bahnen überlegen, ob ihre Fahrt wirklich nötig ist. "Wir sind an einem Punkt, an dem die Behörden nochmal nachsteuern, weil sie merken, dass die schwedischen Infektionszahlen stark abweichen von denen der skandinavischen Freunde", erklärt Weißbach.
Selbst Anders Tegnell, Schwedens Staats-Epidemiologe räumt Versäumnisse ein: "Wir hätten überlegen müssen, wo wir entschlossener hätten handeln sollen", sagt er im Radio-Interview mit Blick auf die mehr als 4.000 Menschen in Schweden, die an Folgen von Corona gestorben sind.
In der Corona-Krise geht Schweden seinen eigenen Weg, hier wurde hier das öffentliche Leben kaum eingeschränkt. Die Todeszahlen sind jedoch erschreckend.
Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sind das viermal so viele wie in Deutschland. Vor allem in dicht besiedelten Stadtteilen der Einwanderer und in der Altenpflege sind die Opferzahlen hoch. "Hier werden auch die Schweden unruhig - man hat die Verwandten nicht mehr ins Heim gelassen, aber die Betreuer wechselten jeden Tag und hatten lange keine Schutzausrüstung. Das trug zur hohen Sterblichkeit bei", sagt Pfarrer Weißbach.
Testkapazitäten sind knapp
Noch immer knapp sind die Testkapazitäten - sie sind Medizinern, Pflegern und Patienten mit sehr deutlichen Symptomen vorbehalten. Viele Infizierte tragen so das Virus unentdeckt durch die Stadt. Eigentlich ist das genau das Ziel von Anders Tegnell: Er möchte das Virus möglichst breit streuen, damit viele Schweden nach überstandener Infektion immun werden gegen Corona.
Doch hat Schweden dabei versagt, die Schwachen vor dem Virus zu schützen. Und so schießen jetzt private Testlabore aus dem Boden, wie ABClabs: Vor allem große Unternehmen haben darin investiert, wollen wissen, was das Virus in ihren Belegschaften anrichtet.
Im Kampf gegen die Pandemie setzen die Schweden mehr auf Freiwilligkeit und weniger auf Verbote – und haben deutlich mehr Tote zu beklagen als die skandinavischen Nachbarn.
Vorsichtsmaßnahmen der Nachbarn Schwedens
Ola Winqvist, wissenschaftlicher Begleiter der Tests von ABClab, ist überzeugt, dass die neuen Tests spätestens im August ergeben, dass Schweden auf dem Weg zur sogenannten Herdenimmunität ein großes Stück vorangekommen ist.
Durchaus möglich also, dass sich erst in einigen Monaten zeigen wird, welche Strategie gegen Corona die richtige ist - aber eines steht fest: Dass jetzt die skandinavischen Nachbarn Vorsichtsmaßnahmen gegen Schweden ergreifen, trifft die Menschen in Stockholm hart. "Die Rolle der Aussätzigen stimmt so gar nicht mit dem Selbstbild der Schweden überein", sagt Pfarrer Weißbach. Gut möglich also, dass Schweden im Kampf gegen das Virus nochmal nachbessert.