Ukraine-Krieg "einfrieren"? Eine Expertin widerspricht

    Interview

    Friedensforscherin zu Kretschmer:Ukraine-Krieg einfrieren: Was dagegen spricht

    20.07.2022 | 19:50
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    Nach Meinung von Sachsens Ministerpräsident Kretschmer sollte sich Deutschland dafür einsetzen, den Ukraine-Krieg "einzufrieren". Eine Friedensforscherin widerspricht.

    Russischer Panzer bei Luhansk
    Russischer Panzer

    ZDFheute: Frau Deitelhoff, was bedeutet der Begriff eingefrorener Konflikt überhaupt, den Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer verwendet hat?
    Nicole Deitelhoff: Bei einem eingefrorenen Konflikt gibt es in der Regel eine Kontaktlinie, hinter der jeweils die Konfliktparteien mit ihren Truppen stehen. Es kommt aber zu keinen oder nur noch sehr wenigen Kampfhandlungen. Es gibt keinen Friedensschluss, es ist lediglich eine Art fortgesetzter Waffenstillstand.
    Die Themen des Konflikts werden nicht geklärt. Häufig entsteht ein eingefrorener Konflikt aus einer Erschöpfung heraus. Zum Beispiel, wenn die Truppen erschöpft sind oder es an Nachschub fehlt.

    Nicole Deitelhoff
    Nicole Deitelhoff
    Quelle: privat

    ... ist Politikwissenschaftlerin und hat seit 2009 die Professur für Internationale Beziehungen und Theorien Globaler Ordnungen an der Goethe-Universität Frankfurt inne. Seit April 2016 ist Nicole Deitelhoff die Geschäftsführende Direktorin des Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). 

    ZDFheute: Gibt es aktuelle oder historische Beispiele für eingefrorene Konflikte?
    Deitelhoff: Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien war ganz lange ein eingefrorener Konflikt, aber auch die Lage im Donbass ab 2014 hatte Züge davon. Man hatte den Versuch unternommen, zu Lösungen zu kommen mit den Minsker Konferenzen. Es gab aber immer wieder Gefechte und das steigerte sich auch mit der Zeit, also in den vergangenen Jahren taute der Konflikt wieder stärker auf.
    ZDFheute: Beobachten Sie die angesprochene Erschöpfung in diesem Krieg, die für einen eingefrorenen Konflikt nötig ist?
    Deitelhoff: Ein großes Problem für die Argumentation von Herrn Kretschmer ist, dass wir eben keine echte Erschöpfung auf beiden Seiten des Krieges sehen. Wir sehen zwar hohe Verluste auf beiden Seiten, aber dieses Gefühl, nicht mehr voranzukommen, das lässt sich aus meiner Sicht nicht feststellen.
    Ganz im Gegenteil, momentan sehen wir eine neue Dynamik. Es gibt russische Gebietsgewinne, aber auch kleinere ukrainische Erfolge.

    Der Krieg ist noch weit davon entfernt einzufrieren.

    Nicole Deitelhoff

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    ZDFheute: Würde sich die Lage der Bevölkerung in der Ukraine dadurch verbessern? Immerhin gäbe es dann weniger Kampfhandlungen?
    Deitelhoff: Wenn wir hier über ein Einfrieren des Konfliktes sprechen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit besetzten Gebieten zu tun haben. Die Linie würde fast den gesamten Donbass und Teile der Südukraine dann zum russischen Gebiet manifestieren.

    Und wir kennen die Berichte, wie es dort vor sich geht. Verschleppungen, Folter, Vergewaltigungen und Erschießungen von Zivilisten.

    Nicole Deitelhoff

    Das bedeutet, dass die Ukrainer unter einer Besatzungsherrschaft leben müssten, die ihnen nicht unbedingt freundlich gesonnen ist.



    ZDFheute: Michael Kretschmer hat Deutschland als Vermittler ins Spiel gebracht. Wie kann man Russland bei solchen Vermittlungen überhaupt glauben?
    Deitelhoff: Russland hat mit dem Angriff die Reste jeglichen Vertrauens, welches bis dato noch Bestand hatte, zerstört. Momentan ist keine gute Situation, um dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Russlands Strategie in diesem Krieg deutet auch nicht darauf hin, dass man an einer diplomatischen Lösung Interesse hat.
    Nehmen wir die willkürliche Bombardierung der ukrainischen Städte, die Taten in Butscha und Irpin. Selbst wenn man glauben würde, dass man Russland vertrauen kann:

    Die werden dann den Donbass schlicht und einfach annektieren.

    Nicole Deitelhoff

    Und sie denken auch nach wie vor weit über den Donbass hinaus. Ein Einfrieren wäre automatisch mit Gebietsabtretungen an Russland verbunden, das sollte Herr Kretschmer dann auch dazu sagen.
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    ZDFheute: Dennoch spricht Herr Kretschmer das aus, was sich viele Menschen wünschen, nämlich ein Ende der Kämpfe. Sind Waffenlieferungen und ein jahrelanger Krieg wirklich alternativlos?
    Deitelhoff: Es wird ein langwieriger Krieg, der uns sicher auch noch im kommenden Jahr beschäftigen wird. Warum ich der Meinung bin, dass wir an den Waffenlieferungen festhalten sollen, ist folgender:

    Wenn wir die Lieferungen einstellen und die Sanktionen aufheben, denn darum geht es Herrn Kretschmer ja, dann wird Russland sich die Ukraine einverleiben.

    Nicole Deitelhoff

    Daran gibt es keinen Zweifel. Und dann geht es weiter mit Transnistrien in Moldau - übrigens auch ein eingefrorener Konflikt -, Georgien und dann könnte es irgendwann sogar ums Baltikum gehen.
    Wir müssen Russland die Grenze aufzeigen und es wird bedeuten, dass wir schmerzhafte Einschnitte erleben müssen. Das muss offen thematisiert werden.
    Das Interview führte Lukas Wilhelm.
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