Interview
Interview
Studie von Forschungsnetzwerk:Warum wenden sich Menschen dem Islamismus zu?
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Islamismus in Deutschland im Wandel der Zeit - das Forschungsnetzwerk Radis hat sich diesem Phänomen in den vergangenen vier Jahren gewidmet. Nun gibt es Ergebnisse.
Demonstration der islamistischen Szene in Hamburg. Laut der Forschungsgruppe RADIS sind islamistische Strömungen vor allem eine gesellschaftspolitische Herausforderung.
Quelle: dpa
Islamismus ist mehr als eine Sicherheitsherausforderung. Julian Junk, Leiter des Forschungsnetzwerks Radis gibt im Gespräch mit der ZDFheute Einblick in vier Jahre Forschungsarbeit.
ZDFheute: Was sind die Kernergebnisse aus den vier Jahren Forschung?
Julian Junk: In Radis haben über hundert Forschende ganz unterschiedliche Facetten von Islamismus untersucht. Die Stärke dieses Netzwerks ist es, zum ersten Mal der Breite der gesellschaftlichen Relevanz von Islamismus Rechnung getragen zu haben. Islamistische Strömungen sind zwar ein Sicherheitsproblem, vor allem aber eine gesellschaftspolitische Herausforderung.
Die Gefährdung durch Islamismus und die Debatten darüber können Polarisierung und Stigmatisierung verstärken und damit weiterer Nährboden für Radikalisierung sein. Lösungen müssen sich an der Vielschichtigkeit der Herausforderung messen lassen, sie können nie eindimensional sein.
ZDFheute: Inwiefern?
Junk: Nehmen wir ein Anschlagsereignis, bei dem zumeist unmittelbar eine einfache politische Lösung präsentiert werden muss. So kommt innerhalb weniger Stunden die Idee auf, beispielsweise verstärkt auf Abschiebungen zu setzen. Die Abschiebepraxis mag im Einzelfall ein Baustein sein, aber zumeist wird diese Verkürzung dem Problem nicht gerecht.
Gerade aus der Forschung zu Salafismus wissen wir, dass es oft keine oder zumindest nicht nur eine Frage des Aufenthaltstitels war.
Islamismus ist auch mit Rassismus, Ausgrenzung und Identitätskonflikten verbunden.
Julian Junk, Leiter Forschungsnetzwerk Radis
ZDFheute: Welche Ursachen gibt es für Radikalisierungen?
Junk: Die Kernfrage ist: Warum wenden sich Menschen eigentlich extremistischen Ideologien zu? Warum sind sie bereit, dafür vielleicht Gewalt oder Hassrede anzuwenden und sich von der Gesellschaft zu verabschieden und unsere liberalen demokratischen Institutionen dafür zu bekämpfen? Oft geht es hier um krisenhafte Erschütterungen in einer Biografie, um fehlende Anerkennung und Zugehörigkeit.
Menschen, die psychisch labil oder durch große Krisen gegangen sind und nicht die Resilienzen im sozialen Umfeld oder in der eigenen Persönlichkeitsentwicklung haben, finden in solchen Ideologien sehr klare Rollenmuster. Und scheinbar klare Antworten, die ihnen die Welt und ihren Platz in dieser erklären und sie damit scheinbar das Leben erstmal einfacher haben.
... Jahrgang 1980, ist Leiter der Forschungsgruppe Radikalisierung am PRIF und Professor für Extremismusforschung an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit. Er forscht zu Radikalisierung, Extremismus, Extremismusprävention und Demokratieförderung, Evaluation sowie zu Sicherheitspolitik.
ZDFheute: Simplifizierung also?
Junk: Genau. Das scheinbar verführerische Angebot ist es, in diesem komplexen Leben über klare Opfer- und Feinderzählungen und über eine scheinbar klare Mission nicht mehr selbst so viele Entscheidungen treffen zu müssen.
ZDFheute: Die Jahre seit 2020 waren turbulent. Hat sich das auf Ihre Forschung ausgewirkt?
Junk: Nährboden kann eben auch ein gesamtgesellschaftliches Klima sein. Ein paar Beispiele während unserer Forschung: Es schlug eine Pandemie zu, wir hatten den Überfall der Hamas auf Israel, den Krieg in Gaza. Das sorgt bis heute für eine enorme Emotionalisierung in verschiedenen Milieus. Und trägt natürlich zur Mobilisierung und Rekrutierung bei.
Wir haben eine individuelle Ebene, eine Ebene des sozialen Umfelds und wir haben diese Makrofaktoren über Verunsicherung - Krisen, vielleicht auch globale Krisen, die dafür den Nährboden bieten, dass Individuen anfälliger werden.
Umgang mit Islamismus:
Präventionsmaßnahmen müssen sich ständig hinterfragen und anpassbar bleiben, denn das Phänomenfeld Islamismus unterliegt einem steten Wandel. Gerade der technologische Fortschritt hat hier einiges dazu beigetragen. Die Akteure sind digitaler und transnationaler geworden. Daher müssen Prävention laut Julian Junk ebenfalls vernetzter gedacht werden. Hinzu komme, dass Präventionsansätze und nachhaltige politische Strategien die Ursachen für eine Radikalisierung in den Blick nehmen müssten.
Deutschland ist mit seiner großen Förderlandschaft und den vielen Initiativen aus zivilgesellschaftlichen und staatlichen Institutionen auf bundes-, landes- und kommunaler Ebene laut Junk sehr gut aufgestellt. Gerade die Vielfalt sei eine der ganz großen Stärken, da so viel resilienter auf das Phänomen eingegangen werden könne. Diese gelte es auf jeden Fall zu bewahren und sich bewährende Ansätze systematisch in Regelstrukturen wie in Schulen und Weiterbildung zu überführen.
ZDFheute: Welche Auswirkungen hat der Islamismus auf die deutsche Gesellschaft?
Junk: Wir haben bisher selten große Anschläge erlebt in Bezug auf Opfer und Todeszahlen. Die subjektive Angst, der Umgang mit Risiken: Hier spielt Islamismus eine große Rolle, wie wir aus Erhebungen der letzten zwei Jahrzehnte wissen.
Terrorismus ist aber vor allem die Inszenierung von Gewalt und die Verunsicherung, die daraus folgt.
Julian Junk, Leiter Forschungsnetzwerk Radis
Jenseits von tatsächlichen Gefährdungslagen, mit denen unsere Sicherheitsbehörden in Deutschland in diesem Zeitraum umgehen mussten, gibt es auch eine hohe Emotionalisierung der Debatte. Schon bei den Pegida-Protesten vor zehn Jahren war das der Fall. Die AfD verstand es beispielsweise, die Verunsicherung weiter zu schüren und zu bestärken, indem sie oft faktenlos oder manchmal zumindest hart an der Grenze von Fakten entlang argumentierte.
ZDFheute: Das klingt, als ob die Realität eine andere ist.
Junk: Sagen wir es mal so, subjektive und objektive Sicherheit fallen hier durchaus auch mal auseinander. Ich will aber nicht sagen, dass es keine objektive Bedrohungslage gibt. Die gibt es auch, aber die subjektive Bedrohungslage, das differenzierte Bild im Bereich Islamismus - Integration - Migration: Das sind viel komplexere Zusammenhänge, der wir uns in unserem Forschungsnetzwerk gewidmet haben.
Das Projekt "Radis - Transfervorhaben Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa" unterstützt und begleitet zwölf Forschungsprojekte der Förderlinie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) "Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa". Es bietet einen in diesem Forschungsfeld strukturell einzigartigen Ansatz des Wissenstransfers in Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Verwaltung. 100 Wissenschaftler arbeiten mit unterschiedlichen disziplinären, methodischen und theoretischen Zugängen, um der Komplexität des Phänomens Islamismus gerecht zu werden. Der Förderzeitraum ist von 2020 bis 2025.
Quelle: dpa
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