Zeitzeugin erinnert sich bei "Lanz" an Zweiten Weltkrieg
80 Jahre nach Kriegsende:Zeitzeugin: "Werde erzählen, solange ich lebe"
von Felix Rappsilber
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Zwangsscheidung der Eltern, Deportation des Vaters, 56 Stunden Zwangsarbeit pro Woche - Ruth Winkelmann erinnert sich bei "Markus Lanz" an die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Sehen Sie hier die Sendung "Markus Lanz" vom 8. Mai 2025 in voller Länge.08.05.2025 | 77:13 min
Berlin, 1945. Ruth hatte etwas zu essen geholt und war auf dem Rückweg zum Bunker, als ein deutscher Soldat sie in ein Erdloch zog: "In dem Moment hörten wir, dass ein Panzer auf uns zukommt."
Der russische Panzer wendete über dem Loch nebenan. Eine Frau und ein kleiner Junge, die sich darin versteckt hatten, starben.
80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs blickte Ruth Winkelmann auf die letzten Kriegstage in Berlin zurück. Die 96-Jährige sagte am Donnerstagabend bei "Markus Lanz":
Wir haben das große Glück gehabt, ein paar Meter weiter zu sein.
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Ruth Winkelmann, Zeitzeugin
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Tag der Befreiung - Tag der Stille
Nachdem sie in den Bunker zurückgekehrt war, empfand sie Erleichterung:
Als ich die Russen hörte, bin ich meiner Mutti um den Hals gefallen und habe ganz laut im Bunker gesagt: 'Mutti, wir haben es geschafft. Wir haben überlebt. Wir sind jetzt frei.'
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Ruth Winkelmann, Zeitzeugin
Mit diesen Worten irritierte die damals 16-Jährige:
Die Leute ringsherum haben uns angeguckt. Die haben gedacht, wir sind Weltwunder: 'Wir sind doch gerade besetzt worden. Wir sind doch nicht frei.'
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Ruth Winkelmann, Zeitzeugin
Nun musste sie es nicht mehr verheimlichen: "Dann habe ich mich natürlich zu erkennen gegeben: 'Ich bin Halbjüdin und müsste eigentlich einen Stern tragen.'" Ruth und ihre Mutter seien in diesem Moment nicht mehr bedroht gewesen, dass "uns jemand verhaften und abführen kann".
Dennoch sei der Tag der Befreiung großteilig nicht als solcher betrachtet worden: "Es war der Tag, wo die Bomben nicht mehr gefallen sind. […] Es war eine Stille."
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Ihr Vater war Jude, ihre Mutter vom Christentum zum Judentum konvertiert. Ruth Winkelmann musste auf Anordnung der Nationalsozialisten die Zwangsscheidung ihrer Eltern erleben. 1943 wurde ihr Vater deportiert und im Konzentrationslager Monowitz umgebracht: "Ich war eine Vater-Tochter. Meinen Vater zu verlieren, ist heute noch für mich etwas ganz, ganz Schlimmes."
Noch zehn Jahre nach dem Krieg sah sie sich in den Straßen Berlins nach ihrem Vater um. Sie hatte gehofft, dass er doch noch am Leben sein könnte.
Zwangsarbeit mit 13 Jahren
Die Erziehung ihrer Eltern habe Ruth Winkelmann durch die Kriegswirren geholfen: "Durch diese menschliche Wärme habe ich es ganz anders und viel besser überleben können." Als Halbjüdin musste sie Zwangsarbeit leisten:
Mit 13 Jahren wurde ich dienstverpflichtet und musste 56 Stunden in der Woche arbeiten.
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Ruth Winkelmann, Zeitzeugin
Winkelmann erinnerte sich an ihren Heimweg: "Ich habe mich am Alexanderplatz von einer Jüdin zur Christin gemacht." Sie zog sich auf der öffentlichen Toilette um und nahm ihren "Judenstern" ab, um in der Bahn unerkannt zu bleiben.
Die in Berlin Geborene fuhr zu einer Laube in Berlin-Wittenau, in der ein Bekannter sie und ihre Mutter versteckt hatte. "Herr Lindenberg" sollte später der zweite Ehemann ihrer Mutter werden.
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Die Zeitzeugin betonte: "Nicht alle Deutschen waren Nazis. Sonst hätten diejenigen, die überlebt haben, nicht überlebt, in Berlin, in Deutschland. Wir waren auf Menschen angewiesen, die uns Gutes getan haben."
Jugendliche nehmen Geschichte wie Löschblatt auf
Ruth Winkelmann sagte entschlossen: "Solange wie ich lebe, werde ich in Schulen und Universitäten gehen und jungen Menschen das erzählen, was ich durchgemacht habe."
Im Augenblick halte sie mindestens zwei Mal pro Woche Vorträge:
Die Jugendlichen, wenn man denkt, dass die unpolitisch sind, nehmen das wie ein Löschblatt auf.
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Ruth Winkelmann, Zeitzeugin
Die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen seien in letzter Zeit "viel offener und intensiver".
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So erzählt Winkelmann ihre Geschichte seit 2003: "Ich brauchte keinen Psychiater und keinen Therapeuten, sondern ich habe gemerkt, mit jedem Mal diese Geschichte zu erzählen, dass ich mich wieder gesünder gefühlt habe."