Großes Streitthema bei TV-Duell:Zurückweisungen: Ist Merz ungenau?
von Daniel Heymann und Jan Henrich
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Asyl und Migration - ein dominierendes Thema im Duell zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz. Würden pauschalen Zurückweisungen gegen Verfassung und Europarecht verstoßen?
Friedrich Merz (CDU) lässt im Duell mit Olaf Scholz (SPD) keine Zweifel aufkommen an seiner Position zu Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den deutschen Grenzen. In mehreren europäischen Staaten sei das bereits gängige Praxis. Der amtierende Bundeskanzler hält dagegen, mit pauschalen Zurückweisungen verstoße man gegen die Verfassung und das Europarecht.
Kaum ein Aspekt ist in dem Gespräch so umstritten wie dieser. Ein Überblick über die geltende Rechtslage und über die Praxis in anderen europäischen Ländern.
Merz beruft sich auf nationale Regelungen
Unions-Kanzlerkandidat Merz beruft sich beim Thema Zurückweisungen vor allem auf das Grundgesetz und seine Änderung im Jahr 1993, auch bekannt als "Asylkompromiss". Damals wurde das Asylrecht in Artikel 16a Grundgesetz tatsächlich eingeschränkt - Menschen, die über ein Nachbarland Deutschlands oder aus einem sicheren Herkunftsstaat einreisten, haben seitdem keinen Anspruch mehr auf Asyl. Von Zurückweisungen spricht das Grundgesetz selbst nicht ausdrücklich, sie sind in Paragraf 18 Asylgesetz als "Einreiseverweigerungen" geregelt.
Europäisches Recht geht vor
Aber: Diese Regelungen sind nach Ansicht der meisten Rechtsexperten faktisch nicht relevant. Denn das Asylrecht ist inzwischen größtenteils auf europäischer Ebene geregelt und das europäische Recht geht an dieser Stelle dem nationalen vor - der sogenannte Anwendungsvorrang des Unionsrechts.
Maßgeblich ist deshalb in erster Linie die Dublin-III-Verordnung. Die sieht vor, dass Staaten wie Deutschland bei ankommenden Schutzsuchenden zumindest in einem geordneten Verfahren prüfen, welcher Staat innerhalb der EU für ein Asylverfahren zuständig ist. Bis die Zuständigkeit geklärt ist, kann im Normalfall nicht zurückgewiesen werden. Die Rechtswidrigkeit pauschaler Zurückweisungen an europäischen Binnengrenzen hat der Europäische Gerichtshof bereits in mehreren Urteilen bestätigt.
Das Dublin-Verfahren regelt, dass jeder Asylbewerber nur in dem EU-Land einen Asylantrag stellen darf, das er als erstes betreten hat. So soll sichergestellt werden, dass jeder Asylantrag nur von einem EU-Mitgliedstaat geprüft wird. Die Dublin-III-Verordnung gilt seit 2014 in den EU-Mitgliedstaaten sowie in Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein.
Hält ein Mitgliedstaat einen anderen für zuständig, kann er ein Übernahme- beziehungsweise Wiederaufnahmeersuchen stellen. Stimmt dieser Staat zu, erhält der Antragsteller einen entsprechenden Bescheid. Er kann einen Eilantrag dagegen stellen, andernfalls vereinbaren die Mitgliedstaaten die Überstellung.
Wird die nicht binnen sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit an jenen Mitgliedstaat über, der um Übernahme ersucht hat. Taucht der Antragsteller unter oder befindet er sich in Strafhaft, kann sich diese Frist verlängern. In bestimmten Fällen sieht Dublin III eine Abschiebehaft vor, etwa bei ungeklärter Identität, verspäteter Antragstellung oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit.
Die Verordnung der EU in voller Länge finden Sie hier.
Quelle: KNA
Hält ein Mitgliedstaat einen anderen für zuständig, kann er ein Übernahme- beziehungsweise Wiederaufnahmeersuchen stellen. Stimmt dieser Staat zu, erhält der Antragsteller einen entsprechenden Bescheid. Er kann einen Eilantrag dagegen stellen, andernfalls vereinbaren die Mitgliedstaaten die Überstellung.
Wird die nicht binnen sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit an jenen Mitgliedstaat über, der um Übernahme ersucht hat. Taucht der Antragsteller unter oder befindet er sich in Strafhaft, kann sich diese Frist verlängern. In bestimmten Fällen sieht Dublin III eine Abschiebehaft vor, etwa bei ungeklärter Identität, verspäteter Antragstellung oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit.
Die Verordnung der EU in voller Länge finden Sie hier.
Quelle: KNA
Vielleicht auch deshalb führt die Union teilweise das Argument ins Feld, es gebe in Deutschland einen Notstand in der Migrationsfrage. Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthält für diesen Fall die Möglichkeit, zeitweise von europäischen Regeln abzuweichen. Ob ein Notstand wirklich vorliegt, würde im Fall der Fälle der Europäische Gerichtshof prüfen. Alle bisherigen Versuche von Staaten, sich auf Artikel 72 AEUV zu berufen, sind bisher vor Gericht gescheitert.
Gibt es wirklich Zurückweisungen in anderen Ländern?
Dass es trotzdem gehen würde, dafür nennt Merz eine ganze Reihe an Beispielen: Frankreich, Italien, Dänemark, Schweden und Finnland, sie alle würden Asylsuchende an der Grenze zurückweisen. Doch die Beispiele sind kaum miteinander vergleichbar und tatsächlich finden in keinem der genannten Länder Zurückweisungen in der Form statt, wie Merz sie sich für Deutschland vorstellt - ein Kurz-Überblick:
Das naheliegendste Beispiel ist vermutlich Finnland. Dort ist im vergangenen Jahr ein Gesetz in Kraft getreten, das Grenzbeamten ermöglicht, die Registrierung von Asylanträgen in Ausnahmefällen zu verweigern. Damit sind sogenannte Pushbacks an den Außengrenzen faktisch legalisiert. Allerdings entstand das Gesetz als Reaktion auf hybride Angriffe aus Russland, bei denen Flüchtlinge gezielt instrumentalisiert wurden.
In Italien findet derzeit eine andere Art der Abkehr von europäischem Asylrecht statt. Das Land weigert sich größtenteils seit Dezember 2022, Schutzsuchende nach den Dublin-Verfahren zurückzunehmen. Auch hier wird mit einem Notstand argumentiert. Rechtliche Konsequenzen hatte das Vorgehen noch nicht. Brüssel hat bislang auf ein Vertragsverletzungsverfahren verzichtet.
Dänemark ist der Sonderfall in der Liste. Denn Dänemark ist offiziell nicht an EU-Asylrecht gebunden. Das Land hatte sich bei seinem Beitritt zur Europäischen Union ein sogenanntes Opt-out für bestimmte Politikbereiche vorbehalten. Dänemark kann dementsprechend individuellere Asylregeln aufstellen. Würde Deutschland ähnlich agieren wollen, müssten zunächst die europäischen Verträge geändert werden, was die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten bedarf.
Auch in Frankreich finden keine pauschalen Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Grenzen statt. Allerdings führt Frankreich Grenzkontrollen durch und hat andere Maßnahmen getroffen, um eine Einreise zu erschweren. Einige davon wurden vom Europäischen Gerichtshof wieder kassiert. Der hatte 2023 klargestellt, dass Maßnahmen, die den Grenzübertritt von Schutzsuchenden an europäischen Binnengrenzen verhindern sollen, rechtswidrig sind.
Alleingänge in der Asylpolitik gibt es derzeit innerhalb der EU, doch deren Bestehen hängt auch häufig davon ab, ob die EU-Kommission oder andere Mitgliedstaaten rechtlich dagegen vorgehen wollen oder ein Auge zudrücken. Als Beweis, dass Zurückweisungen von Schutzsuchenden an europäischen Binnengrenzen möglich wären, taugen die Beispiele jedenfalls nicht.
Daniel Heymann und Jan Henrich arbeiten in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.
Quelle: dpa
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