Genitalverstümmelung: Zunehmend Betroffene in Deutschland
Mädchen in Deutschland betroffen:Genitalverstümmelung: Viele Ämter überfordert
von Natalia Bieniek
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Genitalverstümmelung - auch in Deutschland sind Zehntausende Frauen betroffen. Vielen Mädchen droht Gewalt, doch die Behörden sind oft überfordert.
Heute wird weltweit auf die grausame Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung aufmerksam gemacht. Auch in Deutschland sind rund 73.000 Mädchen und Frauen betroffen.06.02.2025 | 1:36 min
Viele Jahre sind vergangen - doch Nancy*, die damals acht war, erinnert sich noch genau an diesen Moment: "Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Es war nicht meine Entscheidung", sagt die heute 40-Jährige. Aufgewachsen in einem kleinen kenianischen Dorf, ist Nancy eine von mehr als 73.200 Frauen in Deutschland, die laut dem Bundesfrauenministerium von Genitalverstümmelung betroffen sind.
Vor vier Jahren kam sie nach Europa und lebt jetzt in Berlin, wo sie sich im "Desert Flower Center" im Krankenhaus Waldfriede einer Operation unterzog, um ihre Genitalien nach jahrelangen Beschwerden wiederherzustellen.
Ein engagiertes Team bietet Mädchen und Frauen in Kenia Zuflucht und schützt sie so vor der verbotenen, aber immer noch praktizierten Tradition der Beschneidung.06.02.2024 | 5:06 min
Hilfe für traumatisierte Mädchen und Frauen
Durch diesen Prozess begleitet sie Dr. Cornelia Strunz, die Koordinatorin des 2013 gegründeten Centers. Die Frauen, die zu ihr in die Sprechstunde kommen, haben unterschiedliche Geschichten: Einige leben schon lange in Deutschland, andere sind erst kürzlich über das Mittelmeer geflohen und suchen hier Schutz:
Es kommen auch junge Frauen, oft zwischen 16 und 18 Jahren zu uns, nachdem sie auf ihrer Flucht unvorstellbare Traumata durchlebt haben - sei es durch Inhaftierung oder sexuelle Gewalt.
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Cornelia Strunz, Desert Flower Center
Über 20.000 Mädchen in Deutschland bedroht
Durch Migration steigt die Zahl der Betroffenen in Deutschland - und der Gefährdeten. Schätzungen zufolge sind hierzulande 20.219 Mädchen von einer Genitalverstümmelung bedroht.
Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist in Deutschland strafbar. Es drohen bis zu 15 Jahre Haft. Der Bericht des Bundeskriminalamts zu geschlechtsspezifischen Straftaten gegen Frauen zeigt zwar, dass 2023 keine entsprechenden Fälle polizeilich erfasst wurden, doch es dürfte zahlreiche Fälle gegeben haben.
"Das liegt daran, dass es sich um eine Praxis handelt, die im Verborgenen stattfindet, oft im engsten Familienkreis", erklärt die Juristin und Terre des Femmes-Referentin für weibliche Genitalverstümmelungen, Marlene Keller.
Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, kurz FGM) wird in rund 30 Ländern in Afrika, im Nahen Osten und in Asien praktiziert. Mehr als 230 Millionen Frauen und Mädchen weltweit sind an ihren Genitalien verstümmelt. Jedes Jahr kommen nach UN-Schätzungen mehr als vier Millionen Mädchen hinzu. Dabei werden ihnen die äußeren Genitalien teilweise oder ganz entfernt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben noch immer viele Mädchen und Frauen während der Verstümmelung oder an deren Folgen.
Oft wird die Beschneidung mit stumpfen, ungereinigten Messern oder anderen Werkzeugen vorgenommen. Dabei kann es zu Schocks, starken Blutungen und Infektionen kommen. Die Beschnittenen leiden teils lebenslang an den psychischen Folgen und chronischen Schmerzen. Natürliche Geburten sind oft unmöglich oder lebensbedrohlich für Mutter und Kind.
Quelle: epd
Die Organisation erhält immer wieder Hinweise auf entsprechende Fälle von Jugendämtern. Doch in welchem Ausmaß Genitalverstümmelung in Deutschland oder den Herkunftsländern vorkommt, ist nur schwer zu bestimmen.
Sie setzen sich ein gegen weibliche Genitalverstümmelung, Abtreibungsverbot, Gewalt gegen Frauen, prekäre Arbeitsverhältnisse und mehr: Europa, Deine Frauen. Eine Porträt-Serie.07.03.2021 | 14:02 min
Jugendamt spielt eine entscheidende Rolle beim Schutz
Die Jugendämter seien oft überfordert; neben der Überlastung fehlt es vor allem an Fortbildungen zu dieser Form der Kindesmisshandlung, sagt Simone Schwarz, Geschäftsführerin der Fachberatungsstelle SAIDA International e.V. in Leipzig.
Ich kann mit Gewissheit sagen, dass in Deutschland praktisch jeder sein Kind der Genitalverstümmelung unterziehen kann, ohne dass es jemals ans Licht kommt.
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Simone Schwarz, Fachberatungsstelle SAIDA
Laut Schwarz hänge es in Deutschland rein vom Zufall ab, ob die Genitalverstümmelung eines Mädchens aufgedeckt wird. Sie arbeite seit 2008 zu diesem Thema, und in dieser Zeit habe sich "wenig zum Besseren gewendet, wenn es um den Kinderschutz geht", sagt Schwarz.
Das Jugendamt hat mehrere Möglichkeiten zu handeln.
Es kann einen Schutzplan aufstellen und regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen anordnen, die von einer spezialisierten Beratungsstelle koordiniert werden. Für Sicherheit sorgt ein familiengerichtlicher Beschluss, der die Gesundheitsversorgung des Kindes regelt.
Zudem kann das Familiengericht hinzugezogen werden, um das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern einzuschränken, wenn das Kind in ein Land reisen soll, in dem Genitalverstümmelung weit verbreitet ist. In solchen Fällen darf das Kind nicht mitreisen.
Dennoch gab es laut Simone Schwarz in den letzten Jahren nur wenige Fälle, in denen das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge tatsächlich eingeschränkt wurden. Das deute darauf hin, dass solche Fälle selten konsequent verfolgt werden, sagt sie.
SAIDA schult Fachkräfte, da viele Behörden, Lehrer, Sozialarbeiter und Ärzte häufig unsicher sind, wie sie handeln sollen.
Anrufe von Kindergärtnerinnen erhalten wir jetzt wirklich vermehrt.
Nancy, die nach ihrer Operation ein zweites Leben beginnen kann, kann nicht fassen, wie Eltern, die in Deutschland leben, ihren Kindern so etwas antun können.
Das ist der Grund, warum ich ein so großes Problem mit meiner eigenen Mutter habe. Wie kann eine Mutter ihrem Kind so etwas antun und es leiden sehen?
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Nancy
"Man legt einfach die Beine hoch, als wolle man ein Tier schlachten. So etwas würde ich meiner Tochter nie antun", sagt die zweifache Mutter. Wenn ihre Kinder alt genug sind, will sie den Mut aufbringen, ihnen zu erzählen, was ihr widerfahren ist.
600.000 von Genitalverstümmelung betroffene Frauen und Mädchen leben in Europa. Eine neue EU-Richtlinie stellt die Praxis unter Strafe. Doch reicht das aus?
von Sara Pipaud und Caelan Novo Fernandez
Quelle: dpa
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