Ministerpräsident Kretschmann: Pazifismus heißt jetzt aufrüsten

Exklusiv

Zeitenwende durch Ukraine-Krieg:Kretschmann: Pazifismus heißt jetzt aufrüsten

von Luisa Houben, Max Schwarz
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Baden-Württembergs Regierungschef Kretschmann sieht keine vernünftige Alternative zu Aufrüstungsplänen in Deutschland und Europa. Pazifismus heiße jetzt verteidigungsbereit sein.

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Sein letztes Dienstjahr empfindet er als das härteste: Winfried Kretschmann (Grüne) ist schon seit 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Bei der nächsten Landtagswahl im Frühjahr 2026 wird er nicht wieder antreten.
Es bestürze ihn, dass Gewissheiten wie Demokratie und die regelbasierte Weltordnung bröckeln, sagt er im ZDFheute-Interview. "Das habe ich mir in meinen schlechtesten Träumen nicht vorstellen können." Ein Gespräch über die immerwährende Sehnsucht nach Frieden und über Aufrüstung als Chance für die kriselnde Wirtschaft.

Porträt Ministerpräsident und ZDF-Verwaltungsratsmitglied Winfried Kretschmann
Quelle: Staatsministerium Baden-Württemberg

... wurde 1948 in Spaichingen geboren. Nach dem Abitur leistete er seinen Grundwehrdienst ab, studierte Biologie und Chemie und arbeitete danach als Lehrer. 1979 war er Mitgründer der Grünen in Baden-Württemberg und wurde 1980 Mitglied der ersten Grünenfraktion im dortigen Landtag.

Seit 1988 gehört der Grünen-Politiker ununterbrochen dem baden-württembergischen Landtag an. Seit 2011 ist er Ministerpräsident des Bundeslandes.

ZDFheute: Herr Kretschmann, ist Aufrüstung die einzige Antwort auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine?
Winfried Kretschmann: Alternativen gibt es natürlich immer, aber ich sehe keine vernünftige, vor allem keine realistische. Das, was ich im Lateinunterricht gelernt habe, ist jetzt ein Stück weit politische Agenda:

Si vis pacem para bellum - Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Winfried Kretschmann

Die Bereitschaft Verteidigung zu fördern, dient einzig und allein dem Zweck, dass es nicht so weit kommt. Damit kein Aggressor, auch Russland, das weitermacht, was er in der Ukraine begonnen hat. Ich denke, damit können alle pazifistisch gesinnten Menschen klarkommen.
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ZDFheute: Ihre Partei Bündnis 90/Die Grünen war einst stark mit dem Friedensthema verbunden. Jetzt besetzen es AfD und BSW. Schmerzt Sie das nicht?
Kretschmann: Nicht wirklich. Ich persönlich war noch nie ein Pazifist, denn ein Staat kann nicht pazifistisch sein. Der muss seine Bürger vor Gewalt schützen. Das ist die allererste Begründung, warum es überhaupt einen Staat gibt.

Friedenssehnsucht ist immer gut. Aber jetzt heißt Pazifismus was anderes, nämlich verteidigungsbereit sein, aufrüsten - und zwar so, dass wir andere wirklich abschrecken.

Winfried Kretschmann

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ZDFheute: Sehen Sie in der massiven Aufrüstung keine Gefahr, gerade in Kombination mit dem Erstarken von autoritären Kräften?
Kretschmann: Der Pazifismus ist nicht wirklich von den Grünen auf die AfD übergegangen. Die AfD fordert eine aggressive nationalistische Politik. Und die ist die Ursache von Kriegen gewesen in der Neuzeit.
Das ist ein rein taktisches Manöver. Die AfD ist eine Partei von großen Putin-Freunden, und sie unterstützen damit einen Aggressor. Das ist in keiner Weise glaubwürdig.
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ZDFheute: Aber nicht alle Aufrüstungskritiker sind Putin-Freunde und Putin-Versteher.
Kretschmann: Ich habe nicht behauptet, dass alle AfD-Wähler Putin-Versteher sind. Aber die AfD ist nun eine wirkliche Putin-Freunde-Partei. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Parteien wie die AfD oder das BSW, das eine Appeasement-Politik gegenüber Wladimir Putin machen will, das sind maximal ein Viertel der Bevölkerung. Eine überwältigende Mehrheit ist klar dafür, dass wir uns Putins Politik entgegenstellen.
Und natürlich muss man sich mit denen in der Minderheit auseinandersetzen. Und zivilisiert mit Argumenten streiten, wie man das in einer Demokratie eben macht.
ZDFheute: Große Demonstrationen gegen die Aufrüstungspläne in Deutschland und Europa sind bislang ausgeblieben. Überrascht Sie das?
Kretschmann: Nein, dazu ist die Aggression Russlands zu klar und zu eindeutig. Russland hat einen europäischen Staat und eine Demokratie überfallen, um zu expandieren.
Das ist so offensichtlich, dass selbst eingefleischte Pazifisten, und solche kenne ich, nicht so naiv sind und sagen, wir können jetzt einfach abrüsten.
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ZDFheute: Liegt es daran, dass die Mentalität einer "Zeitenwende" bei der Bevölkerung angekommen ist?
Kretschmann: Ja, sie ist angekommen, aber noch nicht durchschlagend. Denn mit Geld allein ist es nicht getan.

Es braucht Verteidigungsbereitschaft. Deswegen trete ich für ein republikanisches Pflichtjahr aller jungen Bürgerinnen und Bürger ein.

Winfried Kretschmann

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ZDFheute: Sie fordern, die hiesige Industrie soll bei den Aufrüstungsplänen "mitmischen". Warum?
Kretschmann: Es ist ganz wichtig, dass Firmen, die Produkte herstellen, die man sowohl militärisch als auch zivil nutzen kann, dass sie in der Rüstung tätig werden. Und wir sind ein exzellenter Hochschulstandort. Wir müssen schauen, dass die Forschung im militärischen Bereich gestärkt wird.
Man darf nicht vergessen, Russland führt schon jetzt einen hybriden Krieg gegen uns - mit Sabotage und Cyberangriffen. Sie richten sich gegen zivile Institutionen und Personen, mit dem Ziel unsere demokratische Ordnung zu unterminieren.
Darum haben wir Grünen mit durchgesetzt, dass der Verteidigungsbegriff auf den zivilen Bereich, etwa von Kommunikation und Cybersicherheit, erweitert wird.
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ZDFheute: Währenddessen ist die für das "Ländle" so wichtige Automobilbranche in der Krise und baut Stellen ab. Hoffen Sie darauf, dass die Rüstungsindustrie diese Transformation abfängt?
Kretschmann: Ja, unter anderem. Rüstungsbetriebe brauchen qualifizierte Fachkräfte. Und wenn in Sparten, die jetzt gerade schrumpfen, Arbeitskräfte freigesetzt werden, dann ist das eine Chance für die Betriebe, diese Kräfte aufzufangen. Das heißt, es bietet auch wirtschaftliche Chancen und die wollen wir natürlich nutzen.
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ZDFheute: Aber wie nachhaltig ist diese Form des Wirtschaftens?
Kretschmann: Ich hoffe, dass sie nicht nachhaltig ist. Ich hoffe, dass wir irgendwann wieder in eine Friedensphase kommen auf der Welt, wo man vielleicht wieder abrüstet. Gemeinsam. Aber auf Jahre hinaus wird es mit Sicherheit nicht der Fall sein.
Wir in Europa erhöhen unsere Verteidigungsausgaben. Es braucht große Reserven. Insofern ist es mittelfristig erstmal nachhaltig. Aber die Friedenssehnsucht dürfen wir auf keinen Fall begraben.

Die Friedenssehnsucht der Leute und die Verteidigungsbereitschaft muss man immer zugleich fördern.

Winfried Kretschmann

Sonst ist die Gefahr, dass wir zurück in den Militarismus kommen. Das ist sicher nicht das, was ein vernünftiger Mensch - und schon gar nicht ich oder die Grünen - wollen.
Luisa Houben und Max Schwarz sind Reporter im Landesstudio Baden-Württemberg.

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Quelle: dpa

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