Unterwegs im Donbass: Wie geht es den Einwohnern?

    Unterwegs mit russischer Armee:Besetzter Donbass: "Wo soll ich sonst hin?"

    Winand Wernicke
    von Winand Wernicke
    17.07.2022 | 21:43
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    Tod, Verzweiflung, Zerstörung: Städte im Donbass wie Mariupol oder Sjewjerodonezk waren lange in den Schlagzeilen, sind nun von den Russen besetzt. Wie geht es den Menschen dort?

    Bilder von Granateneinschlägen, Bränden, Tod und Verzweiflung: Die Namen verschiedener ukrainischer Städte wie Mariupol, Sjewjerodonezk und Lyssytschansk stehen dafür, haben lange Zeit die Nachrichten rund um die Kämpfe in der Ukraine bestimmt.
    Mittlerweile ist es stiller geworden um diese Regionen, die Orte sind von russischen Truppen eingenommen und besetzt worden. Aktuelle Bilder und Nachrichten liegen kaum vor.

    Reise in besetzte Gebiete - unter russischer Aufsicht

    Wie es vor Ort aussieht, wie die Versorgungslage der Menschen ist und wie groß die Zerstörung, konnten wir uns nun - zumindest teilweise - ansehen. Das russische Verteidigungsministerium organisierte eine Reise in die Region, an der auch das ZDF teilnahm. Wir haben uns dafür entschieden, um so einen Blick auf die andere Seite der Front werfen zu können. Und um über die Situation der Menschen, die dort leben, zu berichten.

    "Embedded Journalism", also "eingebetteter Journalismus" nennt sich diese Form der Berichterstattung. Wir wurden also permanent begleitet und bei unseren Dreharbeiten beobachtet von Vertretern des Verteidigungsministeriums. Wir sind in von ihnen organisierten Bussen gefahren und wurden von bewaffneten Soldaten der russischen Armee beschützt. Klar ist: Bei der mehrtägigen Fahrt wurden wir nur an Orte und zu Situationen gebracht, die von russischer Seite geplant waren und über die berichtetet werden soll – aus Sicht des russischen Verteidigungsministeriums. Und klar ist auch, manch Einwohner der Ruinenstädte wird im Interview mit uns zwei Mal überlegen, was er sagt, angesichts der vielen russischen Vertreter drum herum.

    Befürworter des eingebetteten Journalismus betonen die unmittelbaren Eindrücke, die diese Form des Journalismus ermöglicht. Ein Besuch auf der russischen Seite der Front wäre sonst ausgeschlossen. Kritiker verweisen darauf, dass es ethisch heikel ist für Reporter, nicht frei entscheiden zu können, wohin man fährt, was man besucht, mit wem man spricht.

    Nina Prestinskaja lebt in Sjewjerodonezk - oder was davon übriggeblieben ist. Die Kämpfe hier galten zeitweise als die schlimmsten im ganzen Land. Als die Gefechte auch in ihre Nähe kamen, musste sich Nina Prestinskaja entscheiden: bleiben oder fliehen.

    Ich hatte nicht vorgehabt von hier wegzugehen. Und wo sollte ich denn auch hin? Ich bin hier geboren, ich lebe hier.

    Nina Prestinskaja, Bewohnerin von Sjewjerodonezk

    "Man hat bis zum letzten Moment versucht, uns zu überreden zu gehen, selbst als es schon Beschuss gegeben hat, erzählt Prestinskaja.

    Zerstörte Wohngebiete, zersprengte Fassaden

    Die Neubauten am Rande der Stadt sind nur noch Ruinen. Zerschossene, gesprengte Fassaden, ausgebrannte Wohnungen. Die Straßen davor mit Kratern übersäht. Auch Schützengräben wurden hier ausgehoben. Nina Prestinskaja erzählt, dass sich hier im Wohngebiet ukrainische Truppen während der russischen Angriffe verschanzt gehabt hätten.
    Die Anwohner hätten sich deshalb als Schutzschild in den Kämpfen missbraucht gefühlt. Wenn es so war, ist klar: Die Verwendung sogenannter menschlicher Schutzschilde ist nach den Genfer Konventionen illegal.

    Wochenlange heftige Kämpfe

    Nach wochenlangen heftigen Kämpfen war die ukrainische Armee schließlich aus der strategisch wichtigen Stadt in der Donbass-Region zurückgedrängt worden. Übrig geblieben ist nur eine Trümmerlandschaft. Genauso wie in der Nachbarstadt Lyssytschansk.
    Bei der Fahrt ins Zentrum bietet sich ein Bild der Verwüstung. Es gibt keinen Strom, Wasserleitungen sind zerstört. Man zeigt uns die Ausgabe von Lebensmittel-Paketen. Es ist ein heißer Tag, jeder Einwohner bekommt dazu nur eine Flasche Wasser mit eineinhalb Litern, nicht viel. Wann sie wieder etwas bekommen, wissen die meisten nicht, die sich hier Hilfe holen. "Wir sind zusammen" steht auf den Paketen, die von Russen ausgeteilt werden.

    "Ich bin hier geboren"

    Als was fühlen sich die Leute hier? Anatoli ist 46, er lebt hier in den Trümmern mit seiner Mutter und einer fast 90-jährigen Tante.

    Ich bin hier geboren im Lugansker Verwaltungsgebiet. Und ich habe mich immer für einen aus dem Donbass gehalten.

    Anatoli, Bewohner von Lyssytschansk

    Eine ausweichende Antwort, sich lieber nicht festlegen, als was man sich sieht: Ukrainer oder Russe. Sicher ist sicher.



    Mariupol, die Stadt mit trauriger Berühmtheit im Süden des Landes, weite Teile der Wohngebiete zeigen Einschusslöcher. Rund um das Stahlwerk, das wir nicht besuchen, sind viele Ruinen. Auch hier in Mariupol ist die Infrastruktur zusammengebrochen.

    Bauprojekte inmitten zerstörter Städte

    Man präsentiert uns Bauprojekte: eine Klinik und ein für 2.500 Menschen geplantes Wohngebiet - angesichts der Zerstörung rund herum eher ein Tropfen auf den heißen Stein. Aus dem Boden gestampft wird das Projekt von einer russischen Baufirma, die dem Verteidigungsministerium angegliedert ist. Also jenem Ministerium, das erst seine Soldaten hierhergeschickt hat, in die sogenannte "militärische Sonderoperation".
    Aufbauhilfe in den besetzten Gebieten im Donbass sollen auch die russischen Partnerstädte leisten, zum Beispiel Moskau und St. Petersburg. Wie lange sich diese das angesichts der westlichen Sanktionen leisten können, ist ungewiss. Milliarden Rubel wären angesichts der Zerstörung erforderlich.

    Gute Getreide-Ernte in dieser Saison

    Nur das gelbe Getreide auf den Äckern unter dem blauen Himmel wächst als wäre Frieden. Und jetzt muss es geerntet werden. Es wird eine gute Ernte diese Saison, ist sich Viktor Worobjow sicher, er ist der Direktor eines Landwirtschaftsbetriebes.
    Getreideernte
    Das Getreide wächst als wäre Frieden.
    Quelle: ZDF

    Ist Getreide zu einer Art Kriegswaffe geworden, weil es absichtlich nicht mehr auf den Weltmarkt kommt? Wohin liefert er?

    Am Tag nach der Ernte verkaufen wir das Getreide an Händler in der Russischen Föderation. Und die exportieren es in die Türkei, nach Syrien, nach Ägypten und sicher nach Algerien.

    Viktor Worobjow, Direktor eines Landwirtschaftsbetriebes im Donbass

    Also nur an befreundete Staaten, wie man das in Russland nennt.
    Die prorussische Verwaltung von Saporischschja, einer Region im Südosten der Ukraine, wird da deutlicher. Man führe nach eigenen Angaben in großem Umfang Getreide aus. Mehr als 100 Waggons seien bereits abgeschickt, ein weiterer Vertrag über 150.000 Tonnen wurde mit einem Getreidehändler abgeschlossen, heißt es auf dem entsprechenden Telegram-Kanal.
    Die Ukraine wirft Russland bereits seit Monaten Getreidediebstahl vor. Moskau bestreitet dies.

    Für den Donbass Frieden wohl in weiter Ferne

    Seit 2014 ist der Donbass Krisengebiet, hier wird gekämpft und gestorben. Und rund viereinhalb Monate dauert die sogenannte militärische Sonderoperation an. Für Aufsehen sorgte in der vergangenen Woche eine Aussage von Russlands Präsident Wladimir Putin.

    Jeder sollte wissen, dass wir im Großen und Ganzen noch nichts Ernsthaftes begonnen haben,

    Wladimir Putin, russischer Präsident

    Und andererseits kündigte die Ukraine eine Großoffensive an, um die besetzten Gebiete im Süden zurückzuerobern. Für die Menschen im Donbass ist damit Frieden wohl noch in weiter Ferne.
    Winand Wernicke ist stellvertretender Redaktionsleiter Tagesmagazine im ZDF. Er leitete mehrere Jahre das ZDF-Studio in Moskau und war zuvor schon mehrmals als "Embedded Journalist" mit der russischen Armee in Syrien unterwegs.

    Aktuelle Nachrichten zur Ukraine