Der Thüringer Verfassungsschutzpräsident, Stephan Kramer, warnt wegen der Energiekrise vor Unruhen im Herbst. Er befürchtet, Extremisten könnten legitime Proteste kapern.
ZDFheute: Bei den jüngsten Corona-Demonstrationen rückte Covid als Thema immer mehr in den Hintergrund. Sie beobachten die Szene. Was stellen Sie fest?
Stephan Kramer: Wir müssen jetzt konstatieren, jedenfalls erleben wir das schon in den letzten Wochen, dass die Corona-Pandemie bei den andauernden Protesten mehr in den Hintergrund tritt. Und der Ukraine-Konflikt sowie die wirtschaftliche Existenzangst angesichts der Energiekrise und allgemeine Unzufriedenheit mit allem und jedem eine immer größere Rolle spielen. Und zuletzt auch ganz konkret ein heißer Herbst.
Mein Kollege Müller aus Brandenburg hat sehr treffend von einem sogenannten Wutwinter in der Szene gesprochen, den man sich herbeiwünscht. Das ist genau das, was auch wir registrieren und derzeit beobachten.
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ZDFheute: Was alarmiert Sie daran konkret?
Kramer: Wir müssen davon ausgehen, dass legitime Proteste aus der Bevölkerung gegen die existenzbedrohliche Situation, die uns möglicherweise im Herbst bevorsteht, also Gasknappheit, Energie-Schwierigkeiten, Versorgungsschwierigkeiten, möglicherweise Rezession, Arbeitslosigkeit, aber auch wachsende Armut bis hinein in die Mittelschicht, also dass legitime Proteste gegen diese Situation gegen Entscheidungen der Politik, von Extremisten unterwandert werden. Insbesondere von denjenigen, die wir schon aus der Querdenker-Szene, aber auch aus der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierungs-Szene und des Rechtsextremismus kennen.
ZDFheute: Wie wird sich die Protestbewegung entwickeln?
Kramer: Das ist schwierig vorauszusagen, aber die Erfahrungen der letzten Monate zeigen eher eine abnehmende Resilienz und steigende Aggressivität bis hin zur Aufforderung von Gewalt in Teilen der Bevölkerung. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass eine so hoch emotionale und existentielle Krisensituation weite Teile der Bevölkerung betreffen wird.
Sie erinnern sich daran, dass schon die Tafel-Gründerin Werth aus Berlin kürzlich davon gesprochen hat, dass sie immer mehr Menschen in den Tafeln auch der Mittelschicht sehen, die mittlerweile als Kunden versuchen, hier Lebensmittel zu bekommen, weil sie sich anders die Versorgung nicht mehr leisten können. Das ist ein zusätzliches Alarmzeichen, wenn selbst die sogenannte Mittelschicht in Existenznot gerät und sich bedroht fühlt.
Wir erleben, dass derzeit insbesondere die rechtsextremistische, aber auch besonders die neurechte Szene, dazu in den sozialen Netzwerken und mit Podcasts massiv unterwegs ist, um die Stimmung aufzunehmen und weiter anzuheizen und zu radikalisieren. In Thüringen, wo der AfD-Landesverband ja als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft ist, mischt auch die AfD, neben beispielsweise der Identitären Bewegung und Ein-Prozent und den bekannten Neurechten, ganz vorne mit, um Stimmung gegen den Staat und die Demokratie zu machen und am Ende mehr Stimmen und Unterstützung für sich zu gewinnen.
ZDFheute: Wie wird der Verfassungsschutz nun weiter vorgehen?
Kramer: Wir beobachten diese Unterwanderung und Instrumentalisierung der Geschehnisse im Rahmen unseres gesetzlichen Auftrages, derzeit bisher hauptsächlich durch Rechtsextremisten und versuchen mit Gefährdungseinschätzungen auch der anderen Sicherheitsbehörden auf Landesebene, aber auch im Bund, Vorsorge zu treffen, um jederzeit handlungsfähig zu sein und Recht und Ordnung jederzeit als Staat zu gewährleisten. Andererseits versuchen wir auch die Bevölkerung durch unsere öffentlichen Hinweise auf diese aktuelle Instrumentalisierung ihrer berechtigten Anliegen durch die Extremisten aufmerksam zu machen.
So kann man sich gut überlegen, welchen Protesten und Demonstrationen man sich anschließt oder besser fernbleibt, um die Feinde der Demokratie eben nicht zu unterstützen. Es gilt zu verhindern, dass ein legitimes Protestanliegen von Extremisten unterwandert und instrumentalisiert wird, so dass am Ende friedliche Bürger sich dann nicht in gewalttätigen Auseinandersetzungen gegen die Polizei und den Staat wiederfinden.
- Experten warnen vor "Wut-Winter"
Politik und Forschung fürchten, dass rechte Extremisten die Energiekrise und die Inflation für ihre Zwecke ausschlachten könnten - und warnen vor neuen Protesten im Winter.
ZDFheute: Was befürchten Sie? Kann es zu Massenprotesten und Krawallen kommen?
Kramer: Massenproteste und Krawalle sind uns in einer lebendigen Demokratie nicht fremd und nicht generell rechtswidrig, mindestens so lange keine Gewalt angewendet wird und die Regeln des Versammlungsrechts eingehalten werden. Wenn die eingangs beschriebenen Krisenszenarien von der Energiekrise, Versorgungskrise, Wirtschaftskrise, über die weltweite Hungersnot mit sich anschließender Migrationskrise bis hin zur möglichen Ausweitung des Ukraine-Krieges fast zeitgleich weiter eskalieren, dann müssen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer existenzbedrohlichen Situation für größere Teile, insbesondere dem Stabilitätsanker Mittelschicht, in unserer Gesellschaft ausgehen.
Wir haben es aber nach der Pandemie und den Weltgeschehnissen der letzten Monate mit einer hochemotionalisierten, aggressiven, zukunftspessimistischen Stimmung in der Bevölkerung zu tun, deren Vertrauen in den Staat, seine Institutionen und politisch Handelnden zumindest in einigen Teilen von massiven Zweifeln behaftet ist. Dazu kommen vor allem rechtsextremistische Kräfte, aber auch ausländische Akteure, die seit einigen Jahren versuchen das Vertrauen in den Staat und die Demokratie durch Hass, Hetze, Delegitimierung und Fake News zu zerstören.
Massenproteste und Krawalle sind ebenso vorstellbar, wie aber auch konkrete Gewalttaten gegen Sachen und Personen, sowie klassischer Terrorismus mit dem Ziel eines Umsturzes. Die Fantasien dazu sind jedenfalls nicht neu. Dagegen war das, was wir in der Corona-Pandemie an teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen in den sozialen Netzwerken, aber auch auf den Straßen und Plätzen bisher erlebt haben, wahrscheinlich eher ein Kindergeburtstag.
Entscheidend für den weiteren Verlauf der Lage wird die Strategie der Krisenbewältigung und vor allem die Krisenkommunikation der politisch Handelnden sein. Das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen und Behörden wird meines Erachtens entscheidend dafür sein, ob der soziale Frieden erhalten bleibt und wir diese Krise gemeinsam bewältigen.
Das Interview führte Astrid Randerath aus dem ZDF-Hauptstadtstudio Berlin.