Zahlreiche Deutsche sitzen in der Türkei im Gefängnis oder Hausarrest. Sie sind Opfer eines Präsidenten, der seine Gegner gnadenlos verfolgt. Diese zwei Frauen haben das erlebt.
Der Vorwurf, einer Terrorgruppe anzugehören, willkürliche Festnahmen und Haft: All dies erleben deutsche Staatsbürger in der Türkei immer wieder. Was bedeutet das für das Leben der Betroffenen?
Hozan Cane und ihre Tochter Gönül Dilan Örs lebten jahrelang ein normales Leben in Deutschland. Dann werden sie in der Türkei festgenommen, eingesperrt und misshandelt. Nach Jahren kehrten sie zurück - doch sie sind traumatisiert fürs Leben.
Die Festnahme - zuerst Mutter, dann Tochter
Im Juni 2018 wird die kurdisch-deutsche Sängerin Hozan Cane im westtürkischen Edirne festgenommen. Sie war im Wahlkampf für die pro-kurdische Oppositionspartei HDP aufgetreten. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Sie soll Kontakte zur PKK haben. Dass es im Gefängnis so schlimm werden würde, hätte sie nicht für möglich gehalten, erzählt sie heute:
"Es kamen drei Wärter und brachten mich in eine kleine Zelle. Sie zogen mich aus. Einer packte meinen rechten Arm, der andere den linken und hielt meinen Kopf. Der Dritte kniete sich vor mich, hielt mit einer Hand meinen Rücken und drang mit der anderen tief in mich ein" - schildert sie ihre Qualen. "Warum tust du das", habe sie gebrüllt. "Und er meinte, vielleicht hast du ja Heroin dort versteckt."
Hozan Canê und Tochter Gönül Dilan Örs: Zwei Frauen aus Köln, die jahrelang ein normales Leben geführt haben. Bis sie in türkische Haft kamen.
Terror-Anklage gegen Tochter
Ihre Tochter Gönül Dilan Örs erfährt von der Festnahme zuhause in Köln. Dort lebt und arbeitet die heute 39-Jährige als Sozialwissenschaftlerin. Einmal in der Woche dürfen Mutter und Tochter miteinander telefonieren. Gönül setzt sich öffentlich für die Freilassung ihrer Mutter ein. Als es dieser immer schlechter geht, beschließt Gönül, in die Türkei zu reisen. Eine folgenschwere Entscheidung: Am Flughafen von Istanbul, direkt bei Einreise, wird sie festgenommen.
Eine harmlose Demo in Köln wird Gönül zum Verhängnis. Im Jahr 2012 hatte sie an einer Protestaktion auf einem Ausflugsdampfer in Köln teilgenommen. Neun Aktivist*innen forderten damals die Freilassung kurdischer Hungerstreikender in der Türkei. Ein Verfahren gegen Gönül wird später von der Staatsanwaltschaft Köln eingestellt. Doch Jahre später tauchen die Akten plötzlich in Ankara auf, bilden die Grundlage einer Terror-Anklage. Es folgt eine Ausreisesperre.
Von der Flucht zur Haft in den Hausarrest
Nach knapp vier Monaten Zwangsaufenthalt in der Türkei hält es die junge Frau nicht mehr aus. Sie versucht, mit Hilfe von Schleppern nach Griechenland zu fliehen. Der Fluchtversuch scheitert: Sie wird festgenommen und ins nahe gelegene Gefängnis von Edirne überstellt.
Nach drei Monaten Haft kommt Gönül Ende 2019 in den Hausarrest. Sie darf die Wohnung nicht verlassen, trägt eine elektronische Fußfessel. Gefangen wie in einem schlechten Film, weit weg von ihrem Leben in Köln. In einem damaligen Interview mit dem ZDF wird ihre Verzweiflung deutlich:
Trotz Frust und Selbstmordgedanken kämpft sie weiter, wartet weiter. Nach Monaten beginnt schließlich ihr Prozess. Die erste Anhörung dauert nur fünfzehn Minuten. Das Ergebnis: Der Hausarrest wird aufgehoben, das Land darf sie noch immer nicht verlassen.
Gönül Örs stand in der Türkei unter Hausarrest. Die türkische Justiz untersuchte, ob sie eine Terroristin ist.
Zurück in Deutschland - immer noch traumatisiert
Nach fast zwei Jahren in der Türkei und trotz dünner Beweislage fordert der Staatsanwalt für Gönül im Spätsommer 2021 überraschend 15 Jahre Haft. Wenige Tage später soll das Urteil fallen. Das will, das kann sie nicht hinnehmen.
Sie unternimmt einen zweiten Fluchtversuch nach Griechenland - mit Erfolg. Als das Gericht tagt, lässt sie sich wegen Krankheit entschuldigen - und ist schon längst in Deutschland. Einen Monat nach Gönüls Rückkehr wird überraschend die Ausreisesperre gegen ihre Mutter aufgehoben. Heute leben die beiden Frauen wieder zusammen in Köln.
Gönüls Gerichtsurteil war ebenso hart wie skurril: schuldig, zehn Jahre und fünf Monate Haft. Doch im gleichen Atemzug wurde die Ausreisesperre aufgehoben. Verurteilt und doch laufen gelassen. "Die tun alles, um ihr Gesicht zu bewahren", sagt Gönül.
Es zeigt einmal mehr: In der Türkei sind politische Gefangene in erster Linie politische Spielbälle. Und Opfer eines Systems, das seine Kritiker*innen zu Staatsfeinden erklärt. Wie Hozan Cane und Gönül Dilan Örs gibt es laut Auswärtigem Amt dutzende Deutsche, die in der Türkei auch heute noch festgehalten werden.