Im Ukraine-Krieg spielt Präsident Erdogan den Vermittler - ein heikler Balanceakt. Den Bruch mit Russland kann er sich nicht leisten, seine Wähler erwarten einen starken Mann.
Mit freundlichem Händedruck begrüßte der russische Kriegsherr Wladimir Putin am Dienstag beim Gipfel in Teheran seinen türkischen Kollegen Recep Tayyin Erdogan. Man kennt sich, man schätzt sich. Eine Zweckgemeinschaft, in der beide den maximalen eigenen Vorteil suchen.
Den Krieg gegen die Ukraine lehnt Erdogan ab, ebenso wie die russische Annexion der Krim und die geplante Annexion der Donbass-Gebiete. Die Bosporus-Meeresenge hat er für russische Kriegsschiffe gesperrt. Mehr Kritik kommt aus Ankara aber nicht an Putin.
Jörg Brase zur Rolle der Türkei:
Ankara ist abhängig von Moskau
Die Sanktionen trägt die Türkei nicht mit. Im Gegenteil: Seit Kriegsausbruch strömt russisches Kapital in die Türkei, türkische Fluggesellschaften bedienen mit Dutzenden Maschinen täglich den russischen Markt, russische Touristen lassen in Istanbul und Antalya die Kassen klingeln.
Erdogan ist stark abhängig vom Wohlwollen Putins. Bei Gas und Öl, beim Weizen, beim Bau des Kernkraftwerks am Mittelmeer.
Türkeis Präsident sieht sich als Mittler
Aus der Not versucht Erdogan eine Tugend zu machen: Die Nähe zu Putin nutzen, um zwischen Kiew und Moskau zu vermitteln, über Möglichkeiten einer Waffenruhe oder sichere Seekorridore für den Export des von den Russen blockierten ukrainischen Getreides zu verhandeln.
Putin gefällt das. Die türkischen Bemühungen bieten dem aggressiven Kriegstreiber in Moskau die Möglichkeit, sich als normaler Verhandlungspartner zu inszenieren. Herausgekommen ist dabei bislang nichts Greifbares. Putin setzt weiter auf die militärische Vernichtung der Ukraine.
Schmusekurs der Türkei - Zähneknirschen bei Selenskyj
Aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Selenskyj ist die Rolle der Türkei zumindest ambivalent. Ankara liefert der Ukraine türkische Kampfdrohnen, türkische Unternehmen investieren in der Ukraine. Zugleich muss Kiew zähneknirschend den Schmusekurs Erdogans mit Putin hinnehmen. Aus einem pragmatischen Grund: Es gibt derzeit kaum einen anderen Gesprächskanal zwischen Kiew und Moskau als Ankara.
Erdogan weiß das. Die Vermittlerrolle, die er seit Kriegsausbruch einnimmt, kommt ihm mehr als gelegen. So kann er mit großen Auftritten auf internationaler Bühne beim Wählervolk zuhause, das unter einer Inflation von offiziell knapp 80 Prozent, faktisch wohl über 160 Prozent, leidet, ein wenig Boden gut machen. Er scheut dabei auch nicht die Konfrontation mit vermeintlichen Bündnispartnern wie der Nato, beispielsweise bei seinen Vorbehalten gegen eine Aufnahme Schwedens und Finnlands in das Bündnis.
Mittelfristig will Erdogan sein Land weiter abkoppeln von Europa und dem amerikanischen Einfluss. Sein Präsidialsystem, mit einem praktisch bedeutungslosen Parlament, die Politisierung der Justiz zur Verfolgung von Gegnern, all das ist mit europäischen Standards nicht mehr in Einklang zu bringen.
Kemal Kirisci, Türkei-Experte der amerikanischen Denkfabrik Brookings, schildert das so: Der zunehmende Autoritarismus und die Repression gegen Kritiker und Oppositionelle sind zum Kennzeichen dieses Landes geworden.
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Schlechte Umfragewerte und bessere Ausgangsposition
Ändern wird Erdogan das nicht. Er versucht vielmehr weiter, antiwestliche Stimmung im Land zu schüren, einen gesteigerten Nationalismus anzuheizen, in der Hoffnung, damit seine angeschlagenen Umfragewerte zu verbessern und ein Jahr vor der Neuwahl trotz dramatischer Wirtschaftskrise in eine bessere Ausgangsposition zu gelangen.
Die Rolle des starken Vermittlers, der international als respektierter Ansprechpartner im Mittelpunkt steht, passt bestens zu dieser Strategie. Sie bedient die Sehnsucht vieler Türkinnen und Türken nach nationaler Größe und globaler Bedeutung.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.