Die EU sollte die Ukraine unterstützen, wo immer es geht. Nur: Über einen EU-Beitritt des Landes zu fabulieren, ist zwar gut gemeint - aber gefährlich.
Man kann Ursula von der Leyen gerade in diversen Interviews dabei beobachten, wie sie versucht, ihre Worte wieder einzufangen. Wie sie wieder und wieder betont, dass so ein Beitritt ja ein Prozess sei, der lange dauern werde - und dass man gerade erst am Anfang stehe. Aber ihr Satz ist in der Welt, und er hat große Erwartungen geweckt.
Das hatte die Kommissionspräsidentin vor ein paar Tagen in Richtung Ukraine gesagt. Was ankam, war die Botschaft: es könne jetzt schnell gehen mit einem EU-Beitritt. Dass ihr vorangestelltes "Im Laufe der Zeit" kaum gehört werden würde, hätte ein Medienprofi wie von der Leyen eigentlich wissen müssen.
Die EU ist kein Lesezirkel
Europa ist der Ukraine in diesen Tagen - unterhalb eines direkten militärischen Eingreifens - jede Form von Unterstützung schuldig. Was Europa dem Land aber auch schuldet, das ist Ehrlichkeit. Und zu dieser Ehrlichkeit gehörte die klare Aussage, dass ein Beitritt auf Jahre hin unwahrscheinlich ist.
Die EU ist eben kein harmloser Lesezirkel, dem man mal eben so beitreten kann. Eine Mitgliedschaft setzt viel voraus: politisch muss das Land als stabile Demokratie funktionieren, wirtschaftlich mit den Volkswirtschaften der anderen 27 Mitgliedstaaten mithalten können. Und rein rechtlich das gesamte, über Jahrzehnte gewachsene Rechtssystem der EU übernehmen.
- EU leitet Prüfung von Antrag der Ukraine ein
Die EU-Kommission soll eine Einschätzung zum möglichen EU-Beitritt der Ukraine, Moldau und Georgien abgeben. Darauf einigten sich die 27 EU-Länder.
Wäre die Ukraine EU-Mitglied, befände sich die EU im Krieg
Dass die Ukraine dafür nicht reif ist, dafür gibt es genügend Belege - die verbreitete Korruption, die etwa Transparency International zuletzt erneut feststellte, ist nur einer davon.
Und schließlich gilt, was mancher vielleicht übersieht, auch für EU-Mitgliedstaaten analog zur Nato eine Beistandsverpflichtung: Seit 2009 verpflichtet Artikel 42, Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union alle EU-Mitgliedstaaten, im Fall eines bewaffneten Angriffs den angegriffenen Staat zu unterstützen. Wäre die Ukraine also dieser Tage bereits EU-Mitglied, die Europäische Union befände sich im Krieg mit Russland. Solange diese Gefahr besteht, ist ein Beitritt ohnehin ausgeschlossen.
Nun könnte man einwenden, dass schon die Aussicht auf einen Beitritt ein wichtiges Symbol darstellt. Dass die Aussage, das Land gehöre zur "europäischen Familie" ein wichtiges Zeichen der Solidarität sei. Und dass ein Beitritt ja irgendwann kommen könne. Alles nur Symbolpolitik also? Wer so argumentiert, verkennt die Wirkung von Worten.
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Aufnahmeversprechen und bislang dennoch kein Beitritt: Der Balkan lässt Grüßen
Die gut gemeinten Aufnahmeversprechen können schnell nach hinten losgehen. Jetzt über einen EU-Beitritt zu fabulieren, ist gefährlich. Der Kreml könnte das als Vorwand für weitere Eskalation nutzen. Derweil ist in der Ukraine die Enttäuschung schon programmiert - wenn es dann doch nicht schnell geht mit einem Beitritt.
Der Westbalkan lässt grüßen, dessen Länder schon 2003 auf dem EU-Gipfel von Thessaloniki eine Aufnahmezusage zu hören bekamen. Seitdem sind beinahe 20 Jahre ohne nennenswerte Fortschritte vergangen - auch, aber nicht nur aufgrund eigener Versäumnisse im Westbalkan. Der letzte Westbalkan-Gipfel im Oktober 2021 endete wie immer: mit warmen Worten, aber ohne konkrete Perspektive.
Die EU sollte diesen Fehler nicht noch einmal wiederholen. Dafür ist die Ukraine zu wichtig. Auch wenn eine Absage an einen Beitritt zunächst schmerzen wird: Die Ukraine hat europäische Ehrlichkeit verdient.
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