Bei aller Wertschätzung für Angela Merkel in Europa: Am Ende zog es sich. Die alte Regierung nicht mehr sprechfähig, die neue nicht im Amt. Und das bremst Europa.
Europa ist gebremst, wenn das wirtschaftsstärkste Mitgliedsland nicht bei der Sache ist. Schon deshalb blickt die EU voller Erwartung nach Berlin. Klar, Olaf Scholz ist kein Newcomer, als Finanzminister hat er unzählige Ratstreffen absolviert und ist dort als solider Europäer ohne Drang zum Revoluzzer wahrgenommen worden.
Als Finanzminister hatte Scholz in den letzten Jahren zunehmend gemeinsame Pressekonferenzen mit seinem französischen Kollegen Bruno Le Maire zelebriert, die Botschaft: Zwischen Deutschland und Frankreich passt kein Blatt. Das soll ab jetzt auch für das Duo Scholz-Macron gelten.
EU: Aufweichung strenger Schuldenregeln?
Endlich, so die Erwartung in Frankreich, werde nun die Reform des europäischen Stabilitäts-und Wachstumspakts vorankommen. Franzosen und Südeuropäer verstehen darunter in erster Linie die Aufweichung der strengen Schuldenregeln, die der Koalitionsvertag zwar andeutet, aber nicht ausbuchstabiert.
Die Koalition hatte sich nicht auf eindeutigere Formulierungen verständigen können. Und so hoffen die "sparsamen" Nordeuropäer und Österreicher auf einen streng auf Haushaltsdisziplin bedachten FDP-Finanzminister Lindner, während die Südländer auf den Sozialdemokraten Scholz und den grünen Vizekanzler Habeck setzen, die doch sicher mit mehr Schulden Klimapolitik und Wirtschaftserholung finanzieren werden.
Konfliktfelder mit Frankreich
Am Ende ahnt Europa, dass Scholz in der Haushaltspolitik vermutlich einfach den Merkel-Kurs fortsetzen wird. Weitere Konfliktfelder mit Frankreich zeichnen sich auch schon ab: Macron will bei der im Januar beginnenden französischen EU-Präsidentschaft das Thema der europäischen Verteidigung ganz oben auf die Tagesordnung setzen, die neue Koalition ist beim Thema Rüstungsausgaben eher kleinlaut.
Und dann wäre da noch die Atomkraft, die Frankreich als Klimawandel-Übergangstechnologie am liebsten mit EU-Subventionen finanzieren möchte, auch das geht Rot-Gelb-Grün gegen den Strich. Deutscher Schub für die Klimapolitik? Mehr Power erhofft man sich von der neuen deutschen Regierung allerdings auf dem Feld der Klimapolitik.
Green Deal für Europa?
Die Grünen sollen jetzt richten, was Angela Merkel als Kanzlerin der deutschen Automobilindustrie bislang verhindert habe. Der Green Deal, den EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ausgerufen hat und der Europa bis zum Jahr 2050 klimaneutral machen soll, muss noch in konkrete Gesetze gegossen und mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten und dem Europaparlament verhandelt werden.
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Schwung dabei für verschärfte Klimaziele, ein Voranschreiten der größten EU-Volkswirtschaft, wünschen sich vor allem westeuropäische Regierungen, während Ost- und manche Südeuropäer genau davor Angst haben. Sie fürchten soziale Ungerechtigkeit, zu hohe Energiepreise, zu wenig Akzeptanz für unpopuläre Klimaschutzmaßnahmen.
Baerbock: Menschenrechte im Zentrum
Schub für - und Streit ums Klima, mit beidem wird die neue deutsche Regierung in Brüssel zu tun haben. Alles neu mit einer wertegeleiteten Außenpolitik Wie viel sich in der deutschen und damit auch europäischen Außenpolitik ändert, hängt davon ab, wer die Außenpolitik künftig macht, Außenministerium oder Kanzleramt.
Die grüne Außenministerin Anna-Lena Baerbock hat bereits angekündigt, dass sie die Menschenrechte ins Zentrum rücken will. Das bedeutet Ärger in erster Linie mit China. Angela Merkel hatte vor knapp einem Jahr das EU-Investitionsabkommen mit China durchgedrückt, die neue deutsche Regierung will es vorerst nicht verabschieden, sagen die Grünen.
Auseinandersetzungen mit Polen und Ungarn?
Kanzler Scholz soll dagegen Xi Jiping über EU-Gipfelchef Michel ausgerichtet haben, dass sich in der Chinapolitik nichts ändern werde. Auf EU-Ebene gibt es bislang keine China-Politik aus einem Guss, auch wenn eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten und deren Wirtschaftsunternehmen China zunehmend kritisch gegenüberstehen.
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Schärfer wird der Wind vermutlich auch in der Auseinandersetzung um den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn. Im Koalitionsvertrag hat die neue Regierung angekündigt, alle Instrumente konsequent zu nutzen, das schließt offenbar auch den sog Rechtsstaatsmechanismus mit ein, nach dem EU-Kommission und Mitgliedsstaaten Polen und Ungarn Geld aus dem EU-Haushalt kürzen können.
Mehr Schwung und mehr Streit
Bislang hatten Merkel und von der Leyen bei der Anwendung gezögert und immer wieder auf Dialog gesetzt. Allerdings ohne Erfolg. Besonders Skandinavier und die Niederlande rechnen jetzt mit einem härteren Durchgreifen gegen jene Regierungen, die den Rechtsstaat aushöhlen. Mehr Schwung heißt auch bei diesem Thema: mehr Streit.
- Viel Kontinuität und ein paar Luftschlösser
Wie wird Deutschland künftig in Europa und der Welt auftreten? Der Ampel-Koalitionsvertrag enthält zur Außen- und Sicherheitspolitik vor allem Pragmatismus. Bis auf zwei Ausnahmen.