Premiere für Bundeskanzer Olaf Scholz auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Für den neuen Bundeskanzler sei es eine "gute Erfahrung" gewesen, er habe sich wohlgefühlt.
Kanzler Scholz nimmt heute an seinem ersten EU-Gipfel teil. Im Fokus in Brüssel dürfte der Truppenaufmarsch Russlands an der ukrainischen Grenze stehen.
Olaf Scholz ist der Neue in der Klasse. Am Morgen kommt er in den Brüsseler Gipfelsaal mit dem quietschbunt-karierten Teppich und geht zielstrebig zu dem Platz, auf dem 16 Jahre Angela Merkel gesessen hat. Abwurf Aktentasche, Corona-Faust mit Gipfelchef Michel. Schnell geht er zurück auf seinen Stuhl hinter dem GERMANY-Schild.
Minutenlang sitzt er da, liest Akten, guckt in sein Handy, spricht mit niemandem, und keiner spricht mit ihm. Er wirkt ein bisschen angespannt und so als fremdele er mit der Europa-Gipfel-Klasse, deren Teil er nun plötzlich ist. Am Morgen von Scholz‘ erstem EU-Gipfel hatten wir Brüsseler Journalisten mit Spannung den sogenannten "Doorstep" des neuen Kanzlers erwartet.
Scholz betont Unverletzbarkeit der EU-Grenzen
Eine Art Eingangsstatement, bei dem die Regierungschefs und -chefinnen vor Kameras formulieren, welche Themen ihnen wichtig sind. Manche beantworten Journalistenfragen. Merkels Statements waren oft gestelzte grammatikalische Herausforderungen, nur manchmal gelang es trotzdem herauszuhören, welche Botschaft ihr wichtig war.
Scholz merkelt schon vom ersten Doorstep an mit einem Satz zur Ukraine: "Deshalb werden wir hier nochmal betonen, dass die Unverletzbarkeit der Grenzen eine der wichtigen Grundlagen für Frieden in Europa ist und dass wir alles dafür tun müssen, dass es bei dieser Unverletzbarkeit auch bleibt." Danach nicht mehr als eine halbe Antwort auf eine Frage.
Die EU nenne "keine konkreten Maßnahmen aus strategischen Gründen", aber auch, weil das einen "Preis für den Westen" hätte, so ZDF-Korrespondent Gunnar Krüger in Brüssel.
Sorgen wegen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze
Die Einarbeitungszeit für Kanzler ist kurz, und so musste Scholz gleich nach seiner Ankunft in Brüssel Mittwochnachmittag zum ersten Weltpolitik-Termin: Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten trifft er den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze bedroht das Land, es gilt der Ukraine Rückendeckung zu geben.
In seiner Regierungserklärung Mittwochmorgen im Bundestag hatte Scholz der Ukraine Solidarität zugesagt, aber gleichzeitig die Möglichkeit eines Dialogfensters mit Moskau in den Raum gestellt. Selenskyj, der ukrainische Präsident, hält dagegen: "Bevor man ein Fenster aufstößt, sollte man erstmal schauen, wie kalt es draußen ist."
Umstrittene Ostsee-Pipeline
Außerdem erklärt Selenskyj Scholz, dass Europa mit Nord Stream 2 bereits ein mächtiges Instrument für die Verhandlungen mit Russland in der Hand habe, die EU müsse also nicht lang über Sanktionen nachdenken. Der Kanzler habe aufmerksam zugehört, erzählt der Ukrainer danach.
Die umstrittene Ostsee-Pipeline, die Olaf Scholz am liebsten aus der Sanktionsdiskussion raushielte, verfolgt ihn spätestens ab jetzt auf Schritt und Tritt. Am Donnerstagmorgen, als der EU-Gipfel regulär beginnt, geben die baltischen Staatschefs zu Protokoll, dass man auf jeden Fall über Nord Stream reden müsse.
- Zwischen Vision und Krisenmanagement
Gipfelpremiere für Kanzler Scholz: Die Fußstapfen seiner Vorgängerin auf europäischem Parkett sind groß - aber auch die Baustellen in der EU.
Mangelnde Koordination der EU-Staaten in der Corona-Krise
Wenn die Russen in der Ukraine einmarschierten, solle Deutschland die Pipeline stilllegen. Scholz lässt unterdessen seine Berater verbreiten, dass die Gasröhre einem geregelten Verfahren zur Genehmigung unterliege und es aus deutscher Sicht keinen politischen Handlungsbedarf gebe. In der Gipfel-Abschlusspressekonferenz fügt der Kanzler die alte Binse hinzu, es handele sich ja um ein privatwirtschaftliches Projekt.
Scholz bekommt auf diesem Gipfel fast die gesamte europäische Themenpalette in 14 Stunden komprimiert. Die Covid-Krise und die mangelnde Koordination unter den Mitgliedsstaaten, die zu stärkende europäische Verteidigung, die galoppierenden Energiepreise und was dagegen zu tun ist, die Eurozone und das wirtschaftliche Zusammenwachsen der Union, und immer wieder der Streit darüber, welche Sanktionen Russland in Schach halten könnten.
Zurückhaltung bei Sanktionen gegen Russland
Scholz hält sich zurück. Für eine Vermittlerrolle ist er noch zu neu und die Themen zu festgefahren. Beim Konflikt über die Strafmaßnahmen gegen Russland bleibt Deutschland vorsichtig, Sanktionen ja, aber eben auch mit einem Dialogangebot an Russland. Auf der Gipfel-Abschlusspressekonferenz um kurz nach Mitternacht wirkt Scholz endlich gelöst.
Vielleicht weil der französische Präsident Emmanuel Macron neben ihm sitzt und beide auf diese Weise signalisieren können, dass das deutsch-französische Verhältnis mit dem neuen Kanzler noch besser wird als mit der Vorgängerin. Vielleicht weil Macron mindestens die Hälfte der Redezeit absorbiert und Scholz daneben schweigen kann. Oder weil der Europa-Crashkurs jetzt erstmal vorbei ist.
Gipfel-Wohlgefühl bei Scholz
Auf die Frage, wie sich sein erster EU-Gipfel angefühlt habe, sagt Scholz sinngemäß, dass ihn nach den Koalitionsverhandlungen nicht mehr viel schocken könne, und dass es wichtig sei zu merken, dass da europäisch etwas zusammenwachse. "Der EU-Gipfel war eine gute Erfahrung und ich hab mich wohlgefühlt." Diese Art Gipfel-Wohlgefühl kann Olaf Scholz jetzt öfter haben.
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