Die dienstälteste und erfahrenste europäische Verhandlerin verabschiedet sich von der Bühne der EU-Staaten. Doch vorher gilt es weiter, die Spaltung Europas zu verhindern.
Gleich drei Regierungschefs und -chefinnen werden auf diesem EU-Gipfel verabschiedet. Wie genau das geschieht, ist noch geheim. Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven, der Tscheche Andre Babis und DIE Frau, die nach 16 Jahren die dienstälteste und erfahrenste europäische Verhandlerin ist. Doch bevor Angela Merkel am Freitag "Tschüss" sagt, hat sie noch ein ganzes Stück Arbeit vor sich. Ein Stück Arbeit, dass auch mit ihrer eigenen Politik des "Zusammenhaltens von Europa" zu tun hat.
Streitthema Nr. 1: Polens Justizsystem
Die Debatte über Polens Justizsystem, die politische Gängelung von Richtern und das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das Teile von EU-Recht für nicht vereinbar mit der polnischen Verfassung hält, wirft einen langen Schatten auf den Herbstgipfel der EU.
Die Frage ist grundsätzlich und brandgefährlich für Europa. Polen nimmt für sich in Anspruch aussuchen zu können, welche EU-Regeln es beachtet und welche nicht, es ignoriert Gerichtsurteile des EuGH. Die Staats- und Regierungschefs haben lange versucht das schwierige Thema zu vermeiden, es der EU-Kommission zuzuschieben, die doch bitte entscheiden solle, welche "Instrumente" sie nutzen könne, um Polens Justizwesen zu verteidigen.
Jetzt aber können die EU-Chefs und Chefinnen der Debatte nicht mehr aus dem Weg gehen. Der polnische Premier Morawiecki will am Nachmittag die Haltung seiner Regierung erneut erklären, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und der Niederländer Rutte wollen ebenfalls reden. Letzter gehört zu der kleineren Gruppe von Ländern, die Polen jetzt schnell EU-Haushaltsgelder kürzen wollen. Die Mehrheit aber ist sich da nicht so sicher. Was, wenn Polen fortan auf eine Blockadepolitik in der EU setzte?
Kanzlerin Merkel setzt auch jetzt noch auf Dialog
Ob Merkel sich in der Diskussion zu Wort meldet, ist unklar. Sie versucht den Konflikt auf ihre Weise zu entschärfen, trifft sich noch vor Gipfelbeginn mit Morawiecki. Merkel setzt auch jetzt noch auf Dialog, sie halte nichts davon, Probleme durch Gerichtsverfahren klären zu wollen, hat sie kürzlich gesagt, man müsse immer in der Lage sein miteinander zu reden.
Da ist es wieder, das Merkel’sche "den-Laden-Zusammenhalten". Diese Politik hat der Kanzlerin in Europa viel Respekt, in den letzten Monaten aber auch Kritik eingebracht. Gerade weil Merkel immer ihre Hand über Ungarn und Polen gehalten habe, sei es überhaupt so weit gekommen.
Ein niederländischer EU-Diplomat sagt es ganz offen: von einer neuen deutschen Regierung erhoffe man sich mehr Energie bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien. Auf ihrem 107. Gipfel wird Merkel dieses Problem nicht mehr lösen können.
Der Streit zwischen Polen und der EU-Kommission wird zu einer kontroversen Debatte führen, so ZDF-Korrespondentin Anne Gellinek.
Streitthema Nr. 2: Die hohen Energiepreise
Europa ächzt unter den gestiegenen Gaspreisen, aber nicht überall gleich. In Spanien und Italien können viele Menschen ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen, die Niederländer und Deutschen kommen bislang glimpflich davon. Der Energiemix ist in jedem Land anders, Deutschland hat langfristige Lieferverträge mit Russland, Spanien kauft sein Gas auf dem Spotmarkt und ist damit extremen Preissprüngen ausgesetzt. Rund 20 EU-Mitgliedsstaaten reagieren bereits teils mit Steuersenkungen, teils mit Energieschecks für Einkommensschwache oder mit Preisdeckelung.
Viel mehr ist in Europa im Moment nicht drin, der Appetit in den Energiemarkt einzugreifen oder ihn grundsätzlich neu zu regeln ist bei einer Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten gering. Man werde "überlegen, welche mittel- und langfristigen Maßnahmen einen erschwinglichen Energiepreis" ermöglichten, heißt es trocken im Gipfel-Abschlusspapier.
Es gilt die Spaltung Europas zu überwinden
Doch auch bei dieser Debatte lauert Gefahr: Polen und andere Länder in Süd- und Osteuropa wollen angesichts der hochschießenden Energiekosten das ehrgeizige Klimaschutz-Programm der EU verwässern und verschieben. Die Preise würden noch weiter steigen, so ihr Argument, das sei sozial ungerecht, nicht umsetzbar.
Merkels Arbeitsauftrag bei ihrem letzten EU-Gipfel ist also eigentlich so wie immer: Es gilt die Spaltung Europas in Ost und West, in Nord und Süd zu überwinden.
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