Im europäischen Viertel in Brüssel steht eine kleine Installation mit einer sehr großen Botschaft. Try the Flavour of Democracy - Komm auf den Geschmack der Demokratie. Die Ukraine hat sie dort hingestellt. Genau zwischen Europäischen Rat und Kommission.
Die Regierungschefs werden vor dem
Gipfel daran vorbeifahren. Und sie werden vor den aufgebauten Kameras das Mantra der Geschlossenheit singen.
Es gehört derzeit zu den beliebtesten Glaubensbekenntnissen der EU, den Zusammenhalt zu beschwören und der Ukraine Treue und Unterstützung zuzusichern. Seit dem
Ukraine-Krieg hat der Geschmack der Freiheit aber seine Selbstverständlichkeit verloren.
EU-Gipfel wird wohl Risse zeigen
Die Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen trägt als Zeichen der Solidarität blau-gelb, die Farben der Ukraine. Die Symbolik scheint verführerisch. Sie suggeriert eine EU, die an einem Strang im
Kampf um Freiheit zieht. Aber der Geschmack der Freiheit hat einen bitteren Beigeschmack, wenn man in den Maschinenraum der EU abtaucht.
Der EU-Gipfel wird wohl Risse zeigen. Hinter den Kulissen droht Europa in nationale Egoismen zu verfallen. Ganz deutlich wird dies an der so viel beschworenen deutsch-französischen Achse. Zu Beginn des Gipfels treffen sich Bundeskanzler
Olaf Scholz und der französische Präsident
Emmanuel Macron. Streitpunkte sind viele.
Macron und Scholz: Multiple Streitpunkte
Scholz' Idee eines europäischen Raketen-Abwehrschirms erteilt der Mann, der sonst immer für eine eigene europäische Verteidigung ist, eine Absage. Macron reichen seine Atomwaffen als Abschreckung. Scholz will eine
Gaspipeline von Spanien durch Frankreich bis nach Deutschland laufen lassen. Macron will das Projekt nicht, will lieber französischen Atomstrom verkaufen.
Und: Aller guten Dinge sind drei. Macron ist für den Gaspreisdeckel, inszeniert sich als Schutzpatron der Kleinen. Die schauen mit einem scharfen Blick auf Deutschland. Auf dem Gipfel schlägt die EU-Kommission
keinen Gaspreisdeckel vor. Das haben wohl die Deutschen verhindert, obwohl viele Mitglieder gerne einen gehabt hätten.
Diktat der Deutschen? Scholz' "Doppelwumms" polarisiert
Die Deutschen befürchten, dass bei einem festgesetzten Preis Europa nicht genügend Gas bekommen würde. Diese
Versorgungslücke würde vor allem die energiehungrige deutsche Wirtschaft treffen. Um dies zu verhindern, hat Scholz den
"Doppelwumms" erfunden. Ein 200-Milliarden-Paket, das Unternehmer und Verbraucher vor explodierenden Gas- und Strompreisen schützen soll.
Auf dem letzten Gipfel in Prag gab es daran heftige Kritik. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sprach von einem Diktat der Deutschen, andere warnten vor nationalen Alleingängen. Gerade finanzschwächere Länder können da nicht mithalten.
"Doppelwumms" nennt der Kanzler seinen Befreiungsschlag in der Energiekrise. Bei vielen EU-Partnern kommt sein 200-Milliarden-Paket nicht gut an. Sie werfen ihm Egoismus vor.
EU-Gaskartell statt Gaspreisdeckel?
Auf dem Gipfel in Brüssel könnte sich ein Kompromiss abzeichnen. Die EU-Kommission schlägt einen "Miniwumms" vor. Ein 40-Milliarden-Paket, um Bürger und Unternehmen in der EU zu entlasten. Und statt des umstrittenen Gaspreisdeckels soll es ein EU-Gaskartell geben.
Die Idee: Die Mitglieder kaufen einen Teil ihres Gases gemeinsam ein. Die geballte Marktmacht soll dann für niedrigere Gaspreise sorgen. Auch da signalisiert die deutsche Regierung im Prinzip Zustimmung, warnt aber davor, nicht gegen europäische Wettbewerbsregeln zu verstoßen. Wahrscheinlich erteilt der Gipfel einen Arbeitsauftrag. Der Gipfel bleibt eine weitere Etappe auf der Suche nach Antworten.
Europa droht nicht nur Wohlstandsverlust
Europa steht erst am Anfang der Krise. Dem Kontinent droht ein nie dagewesener
Wohlstandsverlust mit Firmen-Pleiten und Massenarbeitslosigkeit, mit kaltem Winter und kühlen Wohnungen. Die Gipfelteilnehmer wissen das und fürchten soziale Unruhen daheim.
Die Flucht in nationale Alleingänge und Rettungspakete ist verführerisch. In Brüssel hat die Ukraine eine Botschaft blau-gelb auf eine Stele geschrieben: Komm auf den Geschmack der Freiheit. Wenige Meter entfernt tagt der Gipfel. Es geht um viel.