Nach monatelangem Streit mit Polen um den Rechtsstaat gibt die EU-Kommission den Wiederaufbaufonds für das Land frei. Doch auch in den eigenen Reihen regt sich massiver Widerstand.
Dass sich gleich mehrere EU-Kommissare mit Einwänden gegen einen Beschluss der eigenen Kommission wenden, daran können sich auch Veteranen in Brüssel kaum erinnern.
Heute war es so weit, als die EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen den Corona-Wiederaufbaufonds für Polen beschlossen hat. Es ist nicht weniger als eine kleine Rebellion, die die Kommissionspräsidentin da erlebt.
Kommission gibt Faustpfand auf
Aber der Reihe nach: Mit dem Beschluss verbunden ist die mögliche Auszahlung von bis zu 36 Milliarden Euro für das Land. Ziemlich viel Geld also, das die EU-Kommission bisher wegen des Streits um verletzte Prinzipien des Rechtsstaats zurückgehalten hatte - als Faustpfand, um aus ihrer Sicht dringend nötige Reformen in dem Land zu erreichen.
Im Mittelpunkt der Diskussion des Streits stand dabei die sogenannte Disziplinarkammer, mit der die Regierung in Polen unliebsame Richter einfach versetzen oder abstrafen konnte.
Nun hat die nationalkonservative polnische Regierung Bewegung angekündigt: Man will die Disziplinarkammer abschaffen. Doch schon bevor der Gesetzentwurf - bei dem es obendrein noch Zweifel gibt, ob er sich nicht bloß in Schönheitskorrekturen ergeht - endgültig beschlossen ist, hat die EU-Kommission den Corona-Aufbaufonds für das Land nun freigegeben.
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Zwei Vizepräsidenten stimmen dagegen
Warum so voreilig? Das fragen sich nicht nur die Kritiker von außen, etwa aus dem Europaparlament. Es fragen sich auch mehrere Schwergewichte aus den Reihen der EU-Kommission selbst. Nach ZDF-Informationen sind darunter etwa mit Frans Timmermanns und Margrethe Vestager gleich zwei der sogenannten Exekutiv-Vizepräsidenten der EU-Kommission - also der direkten Stellvertreter Ursula von der Leyens.
Außerdem in den Reihen der Skeptiker: die Vizepräsidentin für Werte und Transparenz, Věra Jourová, Justiz-Kommissar Didier Reynders sowie Innen-Kommissarin Ylva Johansson.
Bei der Abstimmung votierten am Ende nur zwei der Kritiker gegen den Plan. Die beiden Gegenstimmen stammten allerdings von den beiden wichtigsten in der Runde - Timmermanns und Vestager. Ihr zentraler Einwand: Die von der Kommission vorgelegten "Meilensteine" entsprächen nicht dem, was der Europäische Gerichtshof von Polen gefordert hatte. Die anderen drei, die vorher Einwände geäußert hatten, nahmen an der Sitzung nicht teil, sie waren auf Reisen.
Der Protest wird folgenlos bleiben - die EU-Kommission hat schließlich so viele Kommissarinnen und Kommissare, wie es Mitgliedsstaaten in der EU gibt: 27. Fünf sind da nur eine Minderheit. Aber eine, die öffentlich zum Problem werden könnte für die Kommissionspräsidentin.
Kritik an Kommissionspräsidentin
Seit Monaten wirft ihr schließlich auch das Europaparlament vor, in Fragen des Rechtsstaats viel zu zögerlich vorzugehen. Den heutigen Beschluss findet etwa der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund gegenüber ZDFheute auch grundfalsch:
In den Reihen der Kommissionspräsidentin hält man diese Kritik selbstredend für völlig falsch. Der Beschluss von heute sei ja weiterhin mit Meilensteinen verbunden: Erst wenn diese erfüllt sind, werde tatsächlich das Geld an Polen ausgezahlt. Und sollte Polen das Rad zurückdrehen, könne man sich das Geld auch wieder zurückholen.
Eine angekratzte Autorität?
Ob die kleine Rebellion in den eigenen Reihen die Autorität der Kommissionspräsidentin ankratzt? Zumindest in ihrem Umfeld wird das vehement bestritten. An diesem Donnerstag reist Ursula von der Leyen nach Polen: Dort will sie den frischen Beschluss ihrer Kommission präsentieren - egal, was manche ihrer eigenen Kommissare dazu auch sagen.
Florian Neuhann ist ZDF-Korrespondent in Brüssel.
- Nur ein schlichter Etikettentausch?
Polen schafft auf Druck der EU die umstrittene Disziplinarkammer am Obersten Gericht ab - und ersetzt diese gleichzeitig durch eine neue. Diese soll genauso arbeiten.