Klimawandel, Digitalisierung, EU-Reformen - das wollte Berlin in den Fokus der EU-Ratspräsidentschaft rücken. Jetzt diktiert Corona die Agenda - mit großen Herausforderungen.
Im Eingang der deutschen EU-Botschaft in Brüssel hängt ein Bildschirm, der jedem den Ernst der Lage klar machen soll: "1 Tag bis zum Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft". Seit Wochen zählt der Countdown die Tage herunter. Der Hausherr im 7. Stock macht keinen Hehl aus seiner Anspannung: "Ich versuche einigermaßen ruhig zu schlafen", sagt Michael Clauss, Deutschlands Botschafter bei der EU in Brüssel, "die Erwartungen an uns sind riesig".
Im Maschinenraum der EU
Mitten in der größten Krise der EU übernimmt Deutschland am 1. Juli die Präsidentschaft im Rat der 27 EU-Mitgliedsstaaten. In Berlin und in Deutschlands Vertretung in Brüssel laufen dann für ein halbes Jahr die Fäden der Europapolitik zusammen. Drei Mal pro Woche wird Michael Clauss dann die Runde der 27 "Ständigen Vertreter" bei der EU in Brüssel leiten. Es ist der Maschinenraum der EU, hier fallen euroapolitische Entscheidungen am Fließband.
Für ein halbes Jahr hatte Kroatien die EU-Ratspräsidentschaft inne. Jetzt übernimmt Deutschland.
Die Ratspräsidentschaft bedeutet Macht und Einfluss bei jedem Thema, das zur Entscheidung steht. Wer für sechs Monate die Geschicke leitet, kann zwar nichts alleine entscheiden, aber die Richtung beeinflussen, in die es gehen soll.
Corona diktiert die Agenda
Seit Jahren bereitet sich die Bundesregierung auf dieses halbe Jahr vor, hat Konzepte erarbeitet, Schwerpunkte ausgemacht, eine Agenda erarbeitet. Bis Februar. Dann kam Corona. Und das änderte alles. Die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen schreiben die Agenda der Ratspräsidentschaft komplett um, diktieren viele Pflicht-Themen und lassen kaum Platz für Kür.
Nicht nur politisch, auch organisatorisch hat Corona fast alle Planungen zunichte gemacht: der EU-China-Gipfel in Leipzig abgesagt, das geplante Treffen der EU-Innenminister in Deutschland zum Videoformat geschrumpft, hinter so gut wie allen Termine und Treffen ein Fragezeichen.
Ab September, so hofft Deutschlands Botschafter Clauss, könne man langsam wieder Ministertreffen mit physischer Präsenz veranstalten.
"Die eigentlichen Deals werden am Rande gemacht", das gehe im Videoformat nicht, sagt der Spitzendiplomat.
Größter Brocken: 750-Milliarden-Fonds
Ein erster Test dafür wird der Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte Juli in Brüssel. Hier geht es um das, was Deutschlands größte Herausforderung im kommenden halben Jahr sein wird: den von der EU-Kommission vorgeschlagenen 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds zur Erholung der europäischen Wirtschaft.
Noch heftig umkämpft, ist der Fonds schon allein als Idee historisch: Erstmals ist Deutschland bereit, gemeinsam mit allen EU-Ländern Schulden aufzunehmen und das Geld an krisengebeutelte EU-Länder zu verteilen. In diesem Plan sehen die einen die letzte Chance, Europa zusammenzuhalten, nachdem die Corona-Krise tiefe Gräben gerissen hat und viele Mitglieder in alte Nationalismen verfallen.
Debatte um den EU-Wiederaufbaufonds: Vieles ist noch umstritten.
Doch noch jedes Detail des Plans ist umstritten: Volumen, Bedingungen, Laufzeit. Hier eine Einigung zu vermitteln, wird Angela Merkels erste große Herausforderung der Ratspräsidentschaft.
Mutter aller EU-Schlachten: der Haushalt
Die zweite ist nicht weniger heikel, nicht weniger gewaltig, nicht weniger kompliziert: Bis Ende des Jahres muss die EU ihren Haushalt für die nächsten sieben Jahre stehen haben. Über eine Billion Euro sind hier auf Programme, Fördertöpfe, Regionen zu verteilen - es ist die Mutter aller EU-Schlachten ums Geld.
Dass mit Deutschland ausgerechnet der größte Nettozahler für Einigung sorgen muss, finden manche EU-Länder ganz praktisch: Zur Not werde Deutschland eine Einigung einfach mit mehr Geld für Europa aus Berlin erkaufen, so die Hoffnung.
Brexit: Verhandlungsgeschick gefragt
Das dritte Pflicht-Thema verkommt im Schatten von Corona vom Mega-Projekt fast zur Randnotiz: der Brexit geht mal wieder in eine entscheidende Phase. Es wird mit an Deutschlands Verhandlungsgeschick liegen, ob bis Ende des Jahres ein Handelsabkommen mit London steht - oder beiden Seiten des Ärmelkanals der harte Brexit bevorsteht. Eine Verlängerung der Übergangsfrist jedenfalls hat Premier Boris Johnson bereits ausgeschlossen. Damit wird Deutschlands Ratspräsidentschaft die entscheidende Phase.
Klimawandel, Digitalisierung, Bildung, EU-Reformen, das sollten mal die Schwerpunkte Berlins für sechs Monate Ratspräsidentschaft werden. Es kam anders. Angela Merkel wird mal wieder oberste Krisenmanagerin.
Heikle Themen wie der Brexit, die Corona-Pandemie und die Wirtschaftskrise stehen die nächsten sechs Monate auf der Agenda des Europäischen Rates. Die Vorzeichen für die deutsche Ratspräsidentschaft könnten besser sein. Die Erwartungen sind hoch.