Mit großen Zukunftsvisionen hatte Präsident Macron Frankreichs EU-Ratspräsidentschaft eingeläutet. Doch seit dem Krieg in der Ukraine überschattet die Gegenwart alles.
Als historisch lassen sich wohl viele Tage des vergangenen Halbjahrs in der Europäischen Union bezeichnen. Jüngstes Beispiel: der 23. Juni. In Rekordzeit haben sich die 27 Mitgliedsstaaten auf einen EU-Beitrittsstatus der Ukraine und Moldau geeinigt.
Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Rumäniens Präsident Klaus Ioannis hatten mit ihrem Kiew-Besuch die Weichen dafür gestellt. "Von dieser Entscheidung geht eine starke Signalwirkung in Richtung Russland aus. Wir als EU haben schnell und geeint reagiert", sagte Macron später in Brüssel.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat die EU zum schnellen Handeln gezwungen. In der Krise sind die Mitgliedsstaaten enger zusammengerückt. Von langwierigen Beratungen, in denen einzelne Länder blockieren, hat man sich in Brüssel verabschiedet - zumindest aktuell.
Emmanuel Macron, Olaf Scholz und weitere Regierungschefs sind nach Kiew gereist, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen.
Macron: Europa muss unabhängige Großmacht werden
Diese Entscheidung kommt auf der Zielgeraden der französischen EU-Ratspräsidentschaft. Ein halbes Jahr zuvor war die geopolitische Welt noch eine andere gewesen, eine Erweiterung der Union stand nicht im Vordergrund.
Im Januar noch hatte Emmanuel Macron die Stärkung der europäischen Souveränität als Priorität verkündet: "Europa muss eine unabhängige zukunftsorientierte Großmacht werden, die Antworten auf die Herausforderungen des Klimawandels, der Digitalisierung und der geopolitischen Lage findet", so der französische Präsident damals im EU-Parlament in Straßburg.
Macron will Souveränität, Wachstum und menschlichere Maßstäbe für Europa.
Mehr Zusammenhalt in Europa bei der Verteidigung
Seit Jahren fordert Macron eine stärkere Kooperation der EU-Mitgliedsstaaten in der Verteidigungspolitik. Der russische Angriffskrieg hat diese Debatte neu entfacht. Macrons sicherheitspolitisches Plädoyer findet in Krisenzeiten nun Resonanz. Den Druck auf Russland erhöhen - das versucht die EU aber vor allem wirtschaftlich.
Beim Gipfel in Versailles, drei Wochen nach Kriegsbeginn, stand das vierte von bis hierhin sechs Sanktionspaketen auf dem Programm. "Eine derart geschlossene europäische Antwort auf die russische Aggression wäre ohne Frankreichs Vermittlung zwischen den europäischen Staats- und Regierungschefs nicht möglich gewesen", bilanziert der Elysée-Palast jetzt zum Ende der EU-Ratspräsidentschaft.
Beim EU-Gipfel in Versailles unternimmt Europa eine Neuaufstellung.
So reagieren die Bürger auf Frankreichs Vermittlerrolle
Öffentliche Anerkennung hat der französische Präsident dafür aber wenig erfahren, analysiert der Politikwissenschaftler Benjamin Morel:
In dieser Zeit habe Macron die Innenpolitik vernachlässigt, etwa die schwindende Kaufkraft vieler Französinnen und Franzosen, so die hartnäckige Kritik am Präsidenten im Wahlkampf.
Bei mehr als hundert Initiativen vermittelt
Mit seiner Wiederwahl sieht sich Macron in seinem Kurs bestätigt. Nach einem halben Jahr EU-Ratspräsidentschaft zeigt man sich in Paris zufrieden: Weit über 90 Prozent aller Vorhaben seien auf den Weg gebracht worden - darunter eine CO2-Grenzabgabe auf bestimmte EU-Importe und ein Digitalgesetz gegen Hassrede im Netz.
Bei 130 Initiativen habe Frankreich zwischen Rat und Parlament vermittelt - weitestgehend geräuschlos - auch weil das gemeinsame Ringen um Sanktionen und nach Alternativen in der Energiepolitik alles überschattet hat.
[Macron muss in Frankreich künftig mit Koalitionspartner regieren. Was bedeutet das für Europa und Deutschland?]
Jetzt übernimmt Tschechien die EU-Ratspräsidentschaft. Zeit für Zukunftsvisionen bleibt in Zeiten eines Krieges mitten in Europa kaum. Die Gegenwart dürfte auch die zweite Jahreshälfte bestimmen.