Corona-Krise, Haushalt, Post-Brexit: Die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sind hoch. Gelingt Kanzlerin Merkel ihr Sprung ins größere, europäische Vermächtnis?
Angela Merkel hat einmal über sich selbst erzählt, dass sie als junges Mädchen in Templin während einer gesamten Schwimmunterrichts-Stunde auf dem Dreimeterbrett gestanden habe - und erst ganz am Ende, als die Mitschüler schon auf dem Weg in die Umkleide waren, gesprungen sei.
Überträgt man das Bild ins Heutige, auf das historische Sprungbrett, dann hat Angela Merkel die europäische Sportstunde schon fast hinter sich: Sie ist länger im Amt als die politischen Anführer aus Frankreich, Spanien, Italien und Polen zusammengenommen. Und jetzt - nach rund 15 Jahren - ist sie mitten im Sprung.
Letzte Chance auf Sprung ins größere, europäische Vermächtnis
Als Emmanuel Macron ihr 2017, zu Beginn seiner Präsidentschaft, mit einer großangelegten Reformagenda die Chance zum Sprung geboten hatte, hatte sie noch gezögert und ist auf dem vertrauten deutschen Standpunkt stehen geblieben - aller französischen Verve zum Trotz.
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EU-Ratspräsidentschaft: Was Berlin tun muss
Mitten in der Corona-Krise übernimmt die Bundesregierung den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Der Wiederaufbaufonds rückt nun in den Mittelpunkt.
Jetzt, mitten in der Corona-Krise, aber hat sich die Lage verändert. Die überall sichtbaren nationalen Reflexe und die abwesende EU münzten bei Merkel den Satz:
Und damit bietet ihr die Coronavirus-Krise eine letzte Chance auf den Sprung ins größere, europäische Vermächtnis.
Merkel verlässt die bisherige deutsche Finanzierungslinie
In dem Moment, als sie gemeinsam mit Macron vorschlug einen Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro einzurichten - der zu einem wesentlichen Teil als Zuschuss fließen soll - und über Schulden finanziert wird - da war klar, ihre Entscheidung zum Sprung ist gefallen, denn damit verlässt sie die bisherige deutsche Finanzierungslinie.
Olaf Scholz hat es den "Hamilton-Moment" genannt: Gemeint war damit Alexander Hamilton, der als US-Finanzminister im 18. Jahrhundert beschlossen hatte, auf US-Bundesebene gemeinsame Schulden aufzunehmen.
"In Brüssel wird von einer Corona-Präsidentschaft gesprochen", kommentiert die ZDF-Studioleiterin in Brüssel Anne Gellinek die Themen, die Deutschland angehen muss.
Zusätzlich hat sich die Kanzlerin am Montag in Meseberg auch noch dem französischen Vorschlag einer bis dahin vehement abgelehnten CO2-Grenzsteuer angeschlossen.
Die "Großen Drei" der deutschen Ratspräsidentschaft
Im Zentrum der deutschen Ratspräsidentschaft werden vor allem drei Themen stehen:
- Alles überragend: die Überwindung der Corona-Krise und ihrer Folgen
- Der Sieben-Jahres-Haushalt, also die Verabschiedung von rund 1,1 Billionen Euro
- Das Handelsabkommen mit dem Brexit-Partner Großbritannien
Nicht nur in Europa, sondern auch hierzulande sind die Erwartungen an Deutschlands EU-Ratspräsidentschaft hoch. Und es gibt klare Forderungen der Opposition.
Und als sei das noch nicht genug, will Berlin versuchen, noch zusätzliche eigene Akzente zu setzen: Beispielsweise Klimaschutz, EU-Asylreform, Digitale Souveränität und Europas gemeinsames Verhältnis zu China.
Wobei die Opposition und auch Teile der SPD wohl zu Recht befürchten, dass diese letztgenannten Themen angesichts der drängenden "Großen Drei" keine wirkliche Chance mehr haben.
Erwartungen zum Ende der Kanzlerschaft hoch
Die Forderungen an die deutsche Ratspräsidentschaft sind dabei so hoch, wie divers: Die "Sparsamen Vier" (Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden, Anm. d. Red.) fühlen sich verraten und hoffen zumindest auf beinharte Bedingungen, die an die Hilfsgelder geknüpft werden sollten; und die Südeuropäer hoffen, dass der Anteil der nicht rückzahlbaren Zuschüsse besonders groß wird und dass die Deutschen das auch gegen die harten Vier durchsetzen.
Insgesamt gilt: Selten waren die Erwartungen an eine Ratspräsidentschaft so groß wie diesmal, selten kann - ja muss - so viel Zukunft in so kurzer Zeit entschieden werden. Aber Merkel ist fast am Ende Ihrer Kanzlerschaft - und damit in vielfacher Hinsicht auf dem Sprung - siehe oben.
Theo Koll ist Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios Berlin