Russlands Strategie: Fehlende Turbine oder fehlender Wille?
Putins Strategie beim Gas:Fehlende Turbine oder fehlender Wille?
von Carolin Wolf und Marilen Martin
29.07.2022 | 18:21
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Russland drosselt seit Wochen die Gaslieferungen. Wartungsarbeiten oder eine fehlende Turbine sollen der Grund sein. Was steckt dahinter?
Russland spielt mit der Angst vor schlecht gefüllten Gasspeichern im Winter
Quelle: dpa
Wie zuvor angekündigt, fließt seit Mittwoch deutlich weniger russisches Erdgas über die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland. Erneut macht Moskau dafür technische Probleme verantwortlich, die wegen der Sanktionen nicht behoben werden können. Die Bundesregierung hingegen sieht hinter der Gas-Drosselung "Machtspiele".
Kreml: Verzögerung durch Gas-Turbine
Laut russischen Angaben soll eine Turbine fehlen, die zum Gastransport durch die Pipeline benötigt werde. Nach Wartungsarbeiten in Kanada sollte die Turbine zur Verdichterstation des russischen Energiekonzerns Gazprom in Portowaja transportiert werden. Russlands Präsidialamt zufolge stecke diese Turbine jetzt aber in Deutschland fest. Außerdem müsse eine weitere gewartet werden, was der Aussage zufolge die Kapazität verringern würde.
Gazprom sieht die Verantwortung bei Siemens Energy, dem Hersteller der Turbinen. Das Unternehmen weist dies zurück. Der Transport der Turbine könne sofort starten, sagte eine Sprecherin. Alle erforderlichen Dokumente für die Ausfuhr lägen vor. Allerdings sollen erforderliche Zolldokumente für den Import nach Russland fehlen. Diese sollen demnach nur von Gazprom bereitgestellt werden können.
Bundesregierung sieht darin Vorwand
Auch in Berlin hält man dagegen und vermutet einen Vorwand für die Lieferkürzungen. Laut stellvertretender Regierungssprecherin Christiane Hoffmann sei die gewartete Turbine bereit, an Gazprom übergeben zu werden, damit sie eingesetzt werden könne.
Nach Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sei das Thema um die Turbine in Kanada ein Beispiel für die Politisierung technischer Fragen durch Russland.
Bis diesen Donnerstag wird Nord Stream 1 gewartet. Danach müsse Gas wieder zu 100 Prozent fließen, fordert die Bundesregierung. Doch laut Russland hängt das von einer Turbine ab.
von Dominik Rzepka
Angst vor zu wenig Gas in Speichern
Der Streit um die Gaslieferungen über Nord Stream 1 hält bereits seit Wochen an. Seit Juni hat Russland die Gaslieferungen zurückgefahren. Die Frage der Gaslieferungen kann dabei von Deutschland und anderen europäischen Staaten nicht ignoriert werden, da sowohl die Wirtschaft als auch die Haushalte von fossilen Brennstoffen wie Gas abhängig sind. Weniger Gas bedeutet daher weniger Heizen, weniger Industrieproduktion und damit Auswirkungen auf die ganze Wirtschaft.
Und genau das ist Russlands Strategie, schreibt Sergej Vakulenko, ehemaliger Gazprom-Mitarbeiter und unabhängiger Experte für Energiepolitik, für den Think Tank Carnegie. "Wenn die Speicher nicht voll sind, wird es einfach zu wenig Gas geben, um durch den Winter zu kommen." Laut Vakulenko wird es daher entweder zu ökonomischen und politischen Krisen in den europäischen Ländern kommen oder die europäischen Staaten machen Eingeständnisse an Moskau – was Putin in die Karten spielen würde. "Diese Strategie funktioniert jedoch nur, wenn die Gasspeicher der EU minimal gefüllt sind," so Vakulenko.
Deutschland muss sich in der Gas-Krise auf einen ungemütlichen Winter einstellen. In Frankreich, Spanien und Polen ist man für die kalte Jahreszeit offenbar besser gerüstet.29.07.2022 | 2:38 min
Propaganda für den Kreml
Doch warum verhängt Russland nicht einfach Sanktionen und hört direkt auf, Gas zu liefern? Vakulenko sieht dahinter verschiedene Kalkulationen des Kremls. Zum einen sei es durch die hohen Gaspreise lohnenswert, weiteres Gas zu liefern – gerade bei den aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes aufgrund der Sanktionen.
Außerdem nutzt der Kreml den Gasnotstand für seine Propaganda, indem er behauptet, dass er selbst verschuldet sei, da die Turbine ja in Deutschland feststecke. Die Staatsmedien greifen das Narrativ gern auf.
Hinzu kommt, dass das vollständige Abschalten der Gaslieferungen die stärkste wirtschaftliche Waffe Russlands gegen Deutschland und Europa ist, so Vakulenko. Zieht Putin diese, bleibt ihm kaum ein stärkeres wirtschaftliches Drohmittel.
Unsicherheit durch Erpressung
Sarah Pagung,Politologin und Expertin für russische Außen- und Sicherheitspolitik der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), spricht daher von einem "Erpressungsversuch mit dem ganz klaren Ziel, deutsche und europäische Unterstützung für die Ukraine zu unterbinden."
Durch die Unsicherheit, wann, ob und wie viel Gas geliefert wird, verfolgt Russland laut Pagung noch ein weiteres Ziel: "Es führt aus russischer Sicht im Optimalfall auch zu verzögerten oder ausbleibenden Handlungen seitens Deutschlands, einer gewissen Lähmung. Wenn Russland klar gesagt hätte, dass sie den Gashahn abstellen, solange Deutschland die Ukraine unterstützt, dann wäre die Lage sehr klar gewesen."
Durch die bewusste Unsicherheit, ob das Gas abgestellt wird oder nicht, wurde politisch nicht schnell und klar reagiert, sondern stattdessen "gehofft, dass es nicht so schlimm kommt."
Wenn sie wollen, können sie
Während die Menschen also beschäftigt sind, darüber zu debattieren, ob es an der Turbine oder Russland liegt, dass weniger Gas geliefert wird, ist die Antwort eigentlich klar: "Es gibt alternative Leitungssysteme, also außer Nord Stream 1 und 2, durch die Russland Gas nach Europa leiten kann, bei denen die Liefermenge ebenfalls sehr, sehr niedrig bis nicht vorhanden ist." Pagung zufolge könnte Russland jederzeit liefern, wenn das Land tatsächlich willens wäre.
"Und alleine daran sieht man natürlich, dass beispielsweise die Turbine vorgeschobene Gründe sind. Und es macht natürlich auch im russischen Kalkül Sinn, da man damit Europa erpresst, die Unterstützung für die Ukraine zu minimieren oder vielleicht sogar zu unterbinden."
Umso wichtiger ist daher eine klare Haltung der Bundesregierung, die sich nicht auf Spielchen mit der russischen Regierung einlässt.
Mit Material von dpa und Reuters
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