Es ist nicht ausgeschlossen, dass in Deutschland zum Ende des Winters das Gas knapp wird. Wem wird bei Engpässen die Leitung zuerst abgedreht?
Die Bundesnetzgaentur befürchtet, das kein Gas mehr aus Russland nach Deutschland fließt. Das Szenario eines Gasmangels im Winter ist damit endgültig angekommen, und das verbale Ringen um Erdgas ist in vollem Gange: Gestern warnte der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, vor einer dramatischen Lebensmittelknappheit in Deutschland, sollte die Landwirtschaft bei der Gasverteilung nicht Vorrang erhalten. Bereits Ende April hatte der Aufsichtsratschef des Energieversorgers Eon, Karl-Ludwig Kley, gefordert, die Politik solle das Gas im Falle eines Mangels zuerst bei privaten Haushalten abschalten und dann erst bei der Industrie.
Doch wie ist das eigentlich geregelt: Wer bekommt kein Gas mehr, wenn es knapp wird? Ein Überblick:
Wie real ist das Szenario eines Gasmangels?
Wir befinden uns aktuell in der zweiten Stufe des Notfallplans Gas, der sogenannten Alarmstufe. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine hat Russland die Menge an Erdgas, die nach Deutschland geliefert wird, erheblich gedrosselt. Es steht die Befürchtung im Raum, dass ab dem 11. Juli - nach routinemäßigen Wartungsarbeiten - gar kein Gas mehr durch die Pipeline Nord Stream 1 kommt.
Bundesnetzagentur-Chef Müller befürchtet einen Totalausfall russischer Gaslieferungen. Die Frage sei, ob die reguläre Wartung der Gaspipeline zu einer politisch motivierten werde.
Für Sommer und Herbst sehen Experten aktuell noch keinerlei Engpässe in der Energieversorgung. Entscheidend sei aber für den Winter, dass die Speicher ausreichend gefüllt werden.
Dazu sei es wichtig, jetzt schon Gas aus anderen Quellen zu beziehen, wie etwa Norwegen, und so viel Gas wie möglich einzusparen.
Was passiert, wenn das Gas knapp wird?
Sollte es am Ende des kommenden Winters tatsächlich zu einer Gasknappheit kommen, muss das vorhandene Gas priorisiert werden. Geregelt wird diese Priorisierung im Notfallplan Gas der Bundesregierung und im Energiewirtschaftsgesetz.
Als allerletztes soll demnach bei sogenannte "Geschütze Kunden" das Gas abgestellt werden. Dazu zählen:
- Private Haushalte mit einem Jahresverbrauch von maximal 10.000 kWh pro Jahr. Darin ist auch eine berufliche, landwirtschaftliche oder gewerbliche Nutzung enthalten, wenn jemand zum Beispiel einer selbstständigen Tätigkeit zu Hause nachgeht. Zur Einordnung: Die durchschnittliche Wohnung in Deutschland hat etwas über 90 Quadratmeter; der Gasverbrauch dafür liegt bei 12.600 kWh. Ein typisches Einfamilienhaus mit 150 Quadratmetern Wohnfläche verbraucht im Durchschnitt 18.000 kWh Gas.
- Kleingewerbe- und landwirtschaftliche Betriebe, Supermärkte, kleinere Krankenhäuser sowie Kindergärten, Schulen und Altenheime mit einem Jahresverbrauch von maximal 1,5 Mio. kWh.
- Großkunden, wenn sie dem Bereich der grundlegenden sozialen Dienste zuzurechnen sind. Dazu zählen etwa Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Feuerwehr, Polizei, Bundeswehreinrichtungen und Justizvollzugsanstalten.
- Wie es um unsere Gasversorgung steht
Geht Deutschland im kommenden Winter das Gas aus? Wie voll sind die Gasspeicher? Kommt noch Gas aus Russland? Zahlen zur Gasversorgung in Deutschland in interaktiven Grafiken.
Was ist mit Betrieben, die nicht grundlegende soziale Dienste ausüben?
Es gibt keine klare Reihenfolge, welches Unternehmen wann abgeschaltet werden soll, wenn das Gas knapp wird: "Die in einer Mangellage zu treffenden Entscheidungen sind immer Einzelfallentscheidungen", schreibt die Bundesnetzagentur dazu. Da ein Versorgungsstopp oder eine Reduzierung von sehr vielen Faktoren abhänge, bereite man "keine abstrakte Versorgungsreduktions-Reihenfolge vor". Ein Faktor bei diesen Einzelfallentscheidungen ist, ob Maschinen durch ein Herunterfahen Schaden nehmen: Als Beispiel wird dabei oft die Glasindustrie genannt, die ihre Schmelzwannen rund um die Uhr auf einer sehr hohen Termperatur halten muss.
Um einen besseren Überblick über den tatsächlichen Verbrauch großer Unternehmen zu bekommen, müssen sich große Gasverbraucher aber künftig in einem Portal registrieren und ihre Verbrauchsdaten übermitteln.
"Die Verbraucher werden die sehr stark steigenden Gaspreise erst im Winter merken" mit "bis zu 400% Preissteigerungen", so Prof. Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.
Außerdem gibt es ein Gasauktions-Modell: Dabei schlägt ein Unternehmen selbst einen Zeitraum vor, in dem es den Gasverbrauch reduzieren kann - etwa über Kurzarbeit oder weil bestimmte Produktionsprozesse runtergefahren werden. Dafür bekommen die Unternehmen dann eine finanzielle Entschädigung.
Laut Energieexpertin Kempfert hat sich der Gasverbrauch der Industrie bereits um 10 Prozent verringert.
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Die Diskussion wird weitergehen - trotz Regelwerk
Die Diskussion um die Priorisierung der Gasreserven wird auch trotz dieser Regeln weitergehen. So erwägt etwa Hamburgs Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) in der "Welt am Sonntag" für den Fall eines Gas-Notstandes in der Hansestadt eine Begrenzung des Warmwassers für private Haushalte. Wie das technisch möglich sein soll, bleibt dabei bisher offen.
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels wurde der durchschnittliche Jahresverbrauch eines Haushaltes mit acht Personen mit etwa 10.000 kWh Gas angegeben. Dabei handelte es sich um einen Rechenfehler. Die Angaben haben wir korrigiert.
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