Ukraine-Krieg: Wie Militärexperten Kiews Erfolge bewerten
Geländegewinne der Ukraine:Wie Militärexperten Kiews Erfolge bewerten
12.09.2022 | 22:34
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Die Ukraine hat Gelände zurückgewonnen. Militärexperten sind sich nicht ganz einig, ob das schon als Wendepunkt im Kampf gegen die russischen Invasoren zu bewerten ist.
Die jüngsten Militärerfolge der ukrainischen Armee seien sehr wahrscheinlich der Wendepunkt im Ukraine-Krieg sagt Militärexperte Gustav Gressel. 12.09.2022 | 2:59 min
Russische Truppen haben sich aus Teilen der Region Charkiw im Osten der Ukraine zurückgezogen. Ukrainische Soldaten konnten etwa die Stadt Isjum zurückerobern. Auch im Süden verzeichnet die Ukraine aktuell Geländegewinne - was könnte das für den weiteren Kriegsverlauf bedeuten?
Militärexperte Gustav Gressel ist optimistisch. "Das sieht zumindest nach gegenwärtigen Verhältnissen sehr nach dem Wendepunkt aus", sagt er im ZDF spezial.
Die Russen haben sehr starke Kräfte verloren.
Gustav Gressel, Militärexperte
Auch im Süden kommt die Ukraine mit ihrer Gegenoffensive voran. "Es gibt einen zweiten Kessel in Cherson. Der könnte sich auf Grund von Munitionsmangel auch in einigen Tagen zuziehen, beziehungsweise diese Truppen könnten kapitulieren", erklärt Gressel. "Und dann haben wir eine erhebliche Schwächung der russischen Armee, was die Mannstärke angeht."
Militärexperte: Russische Soldaten in Charkiw überrumpelt
Oberst a.D. Wolfgang Richter ist nicht ganz so zuversichtlich. "Das ist ein großer Erfolg für die ukrainischen Streitkräfte." Aber: "Das ist noch keine strategische Wende. Das Ende des Krieges ist noch nicht absehbar", sagt er bei ZDF heute live.
Die Militärexperten sind sich einig, dass Russland von der Ukraine überrascht wurde. "Sie haben die Russen kalt erwischt", so Richter. Das sieht auch Gressel so und erläutert: "Man hat die Erwartungshaltung für die Offensive in Cherson aufgebaut - über Monate: Der Präsident sprach von der Cherson-Offensive, alle Experten sprachen davon. Dann kamen sie an einen anderen Ort."
Die Ukraine werde nicht stillstehen, sagte Präsident Wolodomyr Selenskyj am Wochenende. 12.09.2022 | 2:24 min
Außerdem hätte die Ukraine den Experten zufolge gegen schwache Verbände der russischen Armee gekämpft. Das führte laut Gressel zu einem schnellen Durchbruch und Chaos brach aus.
Dieses Chaos haben die Ukrainer sehr geschickt ausgenutzt und haben diese großen Geländegewinne jetzt gemacht.
Gustav Gressel, Militärexperte
Richter vermutet außerdem, dass die Motivation auf russischer Seite sinkt. Es habe Berichte darüber gegeben, dass russische Soldaten zivile Kleidung angezogen haben und geflohen seien. "Wenn das zutrifft und sich das fortsetzen sollte, wäre das in der Tat die Achillesferse."
Auch in Russland scheint es Zweifel zu geben. "Die Propaganda funktioniert nicht mehr", sagt Russland-Experte Nico Lange bei ZDF heute live. "Jeder versteht, dass es ein Misserfolg ist." Es kursierten, so Lange, in der russischen Bevölkerung Infos, dass russische Soldaten gefallen und verletzt sind, vermisst werden.
Sogar das frühere Parlamentsmitglied Boris Nadeschdin äußerte in einer russischen Talkshow Kritik. Die Show lief im Sender NTW, der dem Staatskonzern Gazprom gehört. Menschen, die Präsident Wladimir Putin erzählt hätten, die Operation werde schnell und effektiv verlaufen, "haben uns alle hereingelegt", sagte Nadeschdin. Er bezweifelte außerdem, dass Russland den Krieg gewinnen könne. Laut Lange verlangten außerdem mehrere Lokalpolitiker Putins Rücktritt.
Die ukrainische Gegenoffensive zeigt Wirkung: Innerhalb weniger Tage wurde Russland auf einem großen Gebiet im Osten des Landes vertrieben. So läuft die Gegenoffensive ab.
Der Grund für die militärischen Erfolge hänge auch mit westlichen Waffen zusammen, sagt der ehemalige Oberst Richter bei ZDF heute live. Diese hätten der Ukraine erheblich geholfen. Eine Lieferung von deutschen Kampfpanzern wie Leopard 2 sieht Richter aber noch nicht. "Deutsche Alleingänge werde es nicht geben. Zusammen mit anderen westlichen Staaten sei eine Lieferung allerdings denkbar.
Angesichts der ukrainischen Erfolge forderte FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Kiew "entsprechendes Material" zur Verfügung zu stellen, um den Druck auf Russland weiter zu erhöhen. Sie pochte im ZDF spezial auf eine rasche Lieferung von Kampfpanzern an Kiew.
Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Agnes-Marie Strack-Zimmermann, fordert, sofort damit anzufangen, die Lieferung von Panzern vorzubereiten.
12.09.2022 | 3:58 min
Omid Nouripour, Bundesvorsitzender der Grünen, erklärte in Bezug auf die Debatte um weitere Waffenlieferungen an die Ukraine im heute journal update, für die Ukrainer sei "jetzt ein zentraler Zeitpunkt", um noch vor dem Winter "mehr vom eigenen Land zu befreien".
So könne sich die "Gefechtslage" auch "auf Dauer" ändern. Entsprechend sei es nötig, die Lage von Tag zu Tag neu zu bewerten. Das sei ein "schwieriger Balanceakt". In Gesprächen mit den Alliierten müsse man nun einen gemeinsamen Weg finden, betonte Nouripour.
Wie geht es weiter?
"Russland wird jetzt versuchen, alle verfügbaren Leute an die Front zu werfen, um diese noch einmal zu stabilisieren," vermutet Gressel. Allerdings könne es passieren, dass die Qualität der Armee sinkt, wenn nun schlecht ausgebildete Soldaten eingesetzt werden.
Das heißt, man kommt jetzt in einen Strudel hinein, an dem der Krieg auf lange Sicht nicht mehr zu gewinnen ist.
Gustav Gressel, Militärexperte
Russland könnte, so Gressel, noch ein Unentschieden erreichen, indem es gewisse starke Linien hält, etwa die alte Kontaktlinie von vor dem 24. Februar. "Aber auch das ist noch nicht sicher."
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.