Ukraine: Baldiger Großangriff Moskaus unwahrscheinlich

    Geländegewinne für Ukraine:Baldiger Großangriff Moskaus unwahrscheinlich

    von Christian Mölling, András Rácz
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    Die Ukraine befreit weitere Gebiete im Westen und Osten, Moskaus Annexionen werden nicht anerkannt, Russland mobilisiert weiter - ein Rückblick auf die vergangene Kriegswoche.

    Am 4. Oktober unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin das am Vortag von der russischen Duma verabschiedete Gesetz über die Annexion von vier ukrainischen Regionen: Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk. Aus russischer Sicht ist mit diesem Gesetz der Annexionsprozess rechtlich abgeschlossen. Mit Ausnahme von Nordkorea hat jedoch kein anderer Staat die Annexion anerkannt.
    Selbst Belarus, Russlands engster politischer und militärischer Verbündeter, betrachtet das Referendum als illegitim. Sowohl die Vereinigten Staaten und die EU als auch sämtliche Nato-Länder erklärten nachdrücklich, dass sie weder die Scheinreferenden noch die Annexion selbst anerkennen.

    USA genehmigen Waffenlieferungen, EU beschließt Sanktionen

    Als unmittelbare Reaktion genehmigten die USA ein weiteres massives, sofortiges Waffenlieferungspaket, während die Europäische Union mit einer neuen Runde von Sanktionen antwortete. Theoretisch könnte Russland nach der Annexion alle zur Verfügung stehenden Instrumente und Mittel zur Verteidigung dieser Gebiete einsetzen, da sie nach russischem Recht als integraler Bestandteil der Russischen Föderation gelten.
    Russische Beamte betonen immer wieder die Bereitschaft Moskaus, Massenvernichtungswaffen einzusetzen, sollte die Ukraine die annektierten Gebiete nicht aufgeben.



    Ukraine setzt Befreiung weiterer Ortschaften fort

    Die Ukraine hat jedoch seit Beginn des Annexionsprozesses erklärt, dass sie ihre Gebiete ungeachtet der unrechtmäßigen Ansprüche Russlands befreien wird. Und genau das geschieht derzeit. Anfang der Woche verstärkte die Ukraine erneut ihre Gegenoffensive in der Region Cherson, was zu erheblichen Gebietsgewinnen in den nordwestlichen Teilen führte.
    Russlands zuvor aufgebaute, vielschichtige Verteidigungsanlagen konnten dem ukrainischen Druck nicht standhalten und brachen zusammen.
    Derzeit versuchen die russischen Streitkräfte, nördlich von Cherson neue Verteidigungslinien zu errichten, um die Regionalhauptstadt zu verteidigen. Parallel dazu hat die Ukraine ihre Gegenoffensive in der Region Charkiw fortgesetzt und intensiviert. Die ukrainischen Streitkräfte haben die Region fast vollständig befreit und rücken bereits in die nördlichen Teile der Region Luhansk vor.

    Russland verliert bedeutende Gebiete

    Gegenwärtig stehen ukrainische Truppen vor Kreminna, einem wichtigen logistischen Knotenpunkt für Russlands militärische Nachschublinien. Etwas weiter südlich in der Region Donezk haben die ukrainischen Streitkräfte sowohl Lyman als auch Jampil befreit. Während Moskau also paradoxerweise damit beschäftigt ist, die juristischen Details seines unrechtmäßigen Annexionsanspruchs zu klären, verliert Russland de facto gerade bedeutende Teile der Gebiete, die es für sich beansprucht.
    Die beiden ukrainischen Gegenoffensiven zeigen, dass Kiew über die notwendigen Kräfte, militärische Ausrüstung, Munition, Nachschub und auch nachrichtendienstliche und planerische Kapazitäten verfügt, um zwei Großangriffe parallel durchzuführen. Unterdessen ist es Russland bisher nicht gelungen, die Frontlinie in Luhansk zu stabilisieren, und selbst die langfristige Verteidigungsfähigkeit von Cherson ist fraglich.

    Mobilisierung schreitet voran, militärischer Wert ist fraglich

    Zugleich treibt Moskau die Teilmobilisierung voran. Noch immer kommt es gelegentlich zu Protesten und Angriffen auf Rekrutierungszentren - während Hunderttausende russischer Männer bereits aus dem Land geflohen sind, um der Einberufung zu entgehen. Dennoch bewältigt die russische Verwaltung allmählich die Mobilisierung von 300.000 Rekruten. Es bleibt jedoch fraglich, ab wann die mobilisierten Truppen die Kampffähigkeit Russlands verstärken werden.
    Die Engpässe bei den Ausbildungskapazitäten sowie bei der Ausrüstung und der allgemeinen Logistik deuten darauf hin, dass dieser Prozess recht langsam vonstattengehen wird. Während einige dezimierte russische Kampfeinheiten bereits frisch mobilisierte Soldaten als Verstärkung erhalten haben, wird die Aufstellung völlig neuer Einheiten wohl noch mindestens einige Monate dauern.
    Daher ist es unwahrscheinlich, dass Russland in der Lage sein wird, vor Anfang 2023 einen neuen Großangriff zu starten. Dies gilt umso mehr, als der bevorstehende Winter die ohnehin schon schwerwiegenden Probleme der russischen Armee bezüglich Kleidung und Ausrüstung noch verschärfen wird.
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